Der voraussichtlich neue Kanzler positioniert sich zwischen Trump und Putin
Man mag dem voraussichtlich neuen Kanzler Friedrich Merz ein berühmtes Zitat des bayerischen Filmemachers Herbert Achternbusch zurufen: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Seit Gründung der Bundesrepublik hatte wohl kein Regierungschef einen derartigen Problemberg in der Innen- und Außenpolitik zu bewältigen.
Nach dem harten Wahlkampf muss Merz zunächst Brücken zum wahrscheinlichen Koalitionspartner SPD bauen. Eine der größten Herausforderungen ist die Begrenzung der illegalen Migration. Das Thema brannte und brennt den Deutschen laut Umfragen besonders stark auf den Nägeln. Ferner steht der CDU-Politiker vor der Aufgabe, die lahme Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen, ohne für soziale Verwerfungen zu sorgen.
Fast alles hängt am Haushalt. Doch die XXL-Projekte der kommenden Bundesregierung sind so kostspielig, dass sie mit einer neuen Prioritätensetzung im Etat kaum zu machen sind. Die Reform von Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung in einer älter werdenden Gesellschaft, die Investitionen in Straßen, Schiene, Digitalisierung und Verteidigung erfordern eine gewaltige finanzielle Kraftanstrengung.
Insbesondere die Außen- und Sicherheitspolitik wird den neuen Kanzler in Anspruch nehmen. Nach dem völlig überraschenden amerikanisch-russischen Schulterschluss im Ukraine-Krieg braucht die Bundeswehr erheblich mehr Mittel. Es ist zu befürchten, dass US-Präsident Donald Trump seine Truppen im großen Stil aus Europa abzieht. Der jahrzehntelang gültige Schutzschirm wackelt.
Merz wird sehr wahrscheinlich um die Justierung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse oder die Auflage eines neuen Sondervermögens für die Bundeswehr nicht herumkommen. Sowohl die Unterstützung der Ukraine als auch die Bedrohung durch die imperialen Ambitionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin machen dies nötig.
Dazu bräuchte der CDU-Mann aber eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, die selbst ein Ad-hoc-Bündnis aus Union, SPD und Grünen nicht auf die Waage brächte. Die AfD und die Linke verfügen über eine Sperrminorität. Merz denkt deshalb offenbar an eine Last-Minute-Aktivierung des alten Bundestages, der noch bis zum 24. März im Amt ist. Mit CDU/CSU, den Sozialdemokraten, den Grünen und der FDP wäre eine derartige Parforce-Aktion möglich.
Da Deutschland auf der einen Seite durch Trump, auf der anderen Seite durch Putin unter Druck steht, richten sich die Scheinwerfer auf die EU. Es sei seine absolute Priorität, Europa so zu stärken, „dass wir Schritt für Schritt Unabhängigkeit von den USA erreichen“, sagte Merz in der „Berliner Runde“ am Sonntag.
Merz ist allerdings nicht so naiv, dass er an eine plötzliche Geschlossenheit des Brüsseler Clubs der 27 glauben würde. Putin- und Trump-Versteher wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán oder sein slowakischer Amtskollege Robert Fico kochen weiterhin ihr eigenes Süppchen. Der Kanzler in spe hat allerdings bereits Kontakt zu Schlüsselpolitikern in Europa – innerhalb und außerhalb der EU – aufgenommen: Dazu zählen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der polnische Regierungschef Donald Tusk sowie der britische Premier Keir Starmer.
Besonders Paris setzt große Hoffnungen auf Merz. Macron war mit seinem feurigen Plädoyer für die Neugründung eines souveränen Europas – die berühmte Sorbonne-Rede 2017 – in Berlin auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Angela Merkel und später Olaf Scholz hatten keine Sensoren für die Europa-Relevanz der deutsch-französischen Beziehungen. Merz will dies ändern und schreckt wohl auch nicht vor einer „Koalition der Willigen“ zurück: Neben Deutschland wären dies vor allem Frankreich, Polen, Großbritannien, Italien, die Benelux-Länder, die Skandinavier und die Balten.
Trotz der neuen Ausrichtung auf Europa darf Merz das Band zu den USA nicht durchschneiden. Um einen geordneten Rückzug der Amerikaner vom Kontinent – wir sprechen von mehreren Jahren – zu ermöglichen, wäre er gut beraten, in Washington pragmatisch aufzutreten. Als traditioneller Transatlantiker, der jahrelang für die US-Investmentgesellschaft Blackrock gearbeitet hat, sollte ihm das nicht schwerfallen. Trump mag Leute, die nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft Karriere gemacht haben. Wenn Merz daraus Vorteile ziehen kann: warum nicht?