Israels Premier Netanjahu fehlt taktisches Gespür und strategisches Denken
Der Nahe Osten bietet in diesen Tagen immer neue Bilder des Krieges. Nur die Schauplätze scheinen zu wechseln. Nach dem grausamen Massaker der radikalislamischen Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 bombte die israelische Luftwaffe den Gazastreifen in eine zum großen Teil unbewohnbare Trümmerlandschaft. Mehr als 40.000 Menschen starben, darunter viele Zivilisten.
Am vergangenen Montag griffen israelische Kampfjets rund 1.100 Ziele im Libanon an. Dabei seien Raketen, Lenkwaffen und Drohnen der proiranischen Schiiten-Miliz Hisbollah zerstört worden, die für den Norden Israels eine Bedrohung gewesen seien, hieß es in Jerusalem. Mehr als 60.000 Menschen musste die israelische Regierung wegen vergangener Hisbollah-Attacken bereits evakuieren. Doch die Luftschläge vom Montag hatten eine verheerende Wirkung: Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums wurden mehr als 350 Menschen getötet und mehr als 1.240 verletzt, darunter viele Frauen und Kinder.
Wohlgemerkt: Israel hat das Recht, sich gegen Terroranschläge zu schützen. Es hat das Recht, die Drahtzieher zur Rechenschaft zu ziehen und Killer-Netzwerke zu zerschlagen. Doch wenn der Einsatz zu viele zivile Opfer erfordert, wird die moralische Legitimität auch hehrer Ziele beschädigt.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu setzt alles auf eine Karte. Um seine Ziele zu verwirklichen, spielt er mit extrem hohem Risiko – mit ungewissem Ausgang. Netanjahu will die Feinde seines Landes nicht nur vernichten. Er legt es auch darauf an, sie zu demütigen, was in der Politik des Nahen Ostens wie ein Brandbeschleuniger wirkt. Erst fädelt der israelische Geheimdienst mutmaßlich eine spektakuläre Massen-Explosion von Kommunikationsgeräten von Hisbollah-Mitgliedern ein. Dann tötet die Luftwaffe mehrere ranghohe Kommandeure der Schiiten-Miliz.
Die Botschaft ist klar: Israel ist imstande, seine Gegner immer und überall zu treffen. Es soll maximale Abschreckung garantieren. Ob dies funktioniert, darf bezweifelt werden. Fast ein Jahr nach der Attentatswelle der Hamas in Israel ist der von Netanjahu versprochene „totale Sieg“ noch nicht erreicht. Der militärische Flügel der Radikalislamisten wurde zwar beträchtlich dezimiert, aber nicht ausgeschaltet.
Netanjahu baut auf militärische Brutalo-Logik. Erst im Gazastreifen und nun im Libanon. Was ihm fehlt, ist taktisches Gespür und strategisches Denken. US-Präsident Joe Biden hat ihm eine diplomatische Lösung auf dem Silbertablett serviert: Waffenstillstand in Gaza und Rückkehr aller Geiseln im Austausch mit palästinensischen Gefangenen. Die Hisbollah hätte dann zudem ihre Angriffe auf Israel eingestellt. Wäre Netanjahu klug, würde er seine Feinde auf die Probe stellen. Falls es nicht klappt, bliebe Israel immer noch die militärische Option.
Ebenso mangelt es Netanjahu an einer Vision für die Zeit nach Ende des Gaza-Krieges. Würde er ein Konzept für eine palästinensische Regierung oder gar einen Palästinenserstaat präsentieren, hätte er alle arabischen Nachbarländer auf seiner Seite. Israel könnte maximale Sicherheitsgarantien wie eine Demilitarisierung des neuen Staates verlangen. Länder wie Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und möglicherweise Saudi-Arabien würden zumindest zeitweise Truppen entsenden, um Terrorgefahren zu unterbinden.
Darüber hinaus bestünde die Aussicht, Saudi-Arabien als strategischen Partner zu gewinnen. Das Königreich teilt mit Israel das Misstrauen gegenüber dem Iran. Im Nahen Osten gilt noch mehr als anderswo die Weisheit: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ Ein derartiger Ansatz würde mehr Chancen auf Stabilität in der Region eröffnen, als eine zusätzliche Front im Libanon aufzumachen.
Doch Netanjahu zieht es vor zu pokern. Er spekuliert auf das Ende der Amtszeit von US-Präsident Joe Biden, der ihm einmal ob seiner mangelnden Kompromissfähigkeit am Telefon vorgeworfen haben soll: „Hören Sie auf, mich zu verarschen.“ Netanjahu hofft darauf, dass ab Januar 2025 wieder Donald Trump im Weißen Haus sitzt. Dann hätte er den erwünschten Freifahrtschein – für sich und seine rechtsextremen Koalitionspartner. Die haben bereits angekündigt, den Gazastreifen zum jüdischen Siedlungsgebiet zu erklären. Fest steht: Ruhe wird so nicht in die Region einkehren.