Israel fehlt ein Konzept für die Zeit nach dem Krieg gegen die Hamas
Vor wenigen Tagen gab Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ganz den Kriegsherrn. Er trug einen Armee-Helm, ein schwarzes T-Shirt und eine kugelsichere Weste. Einem seiner Soldaten legte er die Hand auf die Schulter. Es war der erste Besuch des Premiers im Gazastreifen seit dem Terroranschlag der islamistischen Hamas am 7. Oktober. „Wir werden bis zum Ende weitermachen – bis zum Sieg“, kündigte Netanjahu an. „Wir werden die Hamas zerstören.“
Im Ziel, die Bedrohung durch die Hamas auszuschalten, sind sich die Israelis einig wie lange nicht. Die Bevölkerung, deren allumfassendes Bedürfnis nach Sicherheit am 7. Oktober massiv erschüttert wurde, will eine Wiederholung des Hamas-Horrors vermeiden – koste es, was es wolle. In den Wochen und Monaten davor war dieser Konsens abhandengekommen: Ein tiefer Riss ging durch das Land. Die von Netanjahu durchgedrückte Justizreform mit der Ausschaltung des Obersten Gerichts trieb immer wieder Hunderttausende Demonstranten auf die Straßen. Reservisten verweigerten aus Protest den Dienst.
So verständlich und nachvollziehbar das Sicherheitsdenken ist: Militärische Überlegungen allein werden den Konflikt nicht lösen. Die Tötung von Hamas-Kommandeuren, die Sprengung des Tunnel-Netzwerks und der Waffenlager sind noch kein strategisches Konzept für die Zukunft.
Der Austausch von Geiseln der Hamas gegen palästinensische Gefangene in Israel hatte zwar kurzzeitig die Hoffnung auf eine verlängerte Waffenruhe oder gar einen Waffenstillstand aufkeimen lassen. Doch die Regierung in Jerusalem hält an ihrer Absicht fest, die Terrororganisation zu vernichten.
Was Israel hingegen fehlt, ist eine schlüssige Vorstellung für den Tag eins nach dem Feldzug gegen die Islamisten. Als sich US-Präsident Joe Biden am 18. Oktober mit Netanjahu und dessen Kriegskabinett in Tel Aviv traf, fragte er: „Was ist euer Plan für die Zeit danach?“ Dröhnendes Schweigen habe den Raum erfüllt, ließen Teilnehmer des Gesprächs später durchblicken.
Wenn Israel langfristig Stabilität schaffen will, darf es sich nicht auf den Gazastreifen beschränken. Nötig ist ein vielschichtiger politischer Prozess. Das Ganze hat eine israelisch-palästinensische, eine regionale und eine globale Dimension.
Israel muss den Palästinensern die Perspektive eines unabhängigen Staates eröffnen, der am besten demilitarisiert ist und dessen Sicherheit von anderen Mächten garantiert wird. In die Verhandlungen sollten gemäßigte arabische Länder wie Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien eingebunden werden. Diese Staaten könnten zumindest vorübergehend bei der Verwaltung und der militärischen Absicherung des Palästinensergebiets eine Rolle spielen. Setzt Israel beim Umgang mit den Palästinensern nur auf Konfrontation, verprellt es die moderaten arabischen Regierungen: Diese stehen bei ihren eigenen Bevölkerungen unter Druck, die sich stark mit dem Schicksal der Palästinenser identifizieren.
Schließlich könnten die USA aufgrund ihres politischen und militärischen Gewichts den Part des ehrlichen Maklers spielen. Es wäre ein heikler Balanceakt. Aber es gibt Vorbilder: Dem amerikanischen Außenminister Henry Kissinger gelang es mit seiner legendären „Pendel-Diplomatie“, ein Jahr nach dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 einen Ausgleich zwischen den Erzfeinden Ägypten und Israel zu erzielen.
Nur mit strategischem Kalkül ist Israel in der Lage, seinen größten Widersacher in der Region – den Iran – zu isolieren. Das Mullah-Regime hält an seinem Vorhaben fest, zusammen mit seinen schiitischen Verbündeten im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen den Staat der Juden auszuradieren. Die Terrorattacken der Hamas passten zu diesem aggressiven Kurs.
Die Anschläge sollten die Zeitenwende im Nahen Osten torpedieren: Die gemäßigten Länder Vereinigte Arabische Emirate, Bahrain, Marokko und Sudan hatten Israel 2020 anerkannt. Saudi-Arabien stand kurz davor. Die Hamas wollte Netanjahu provozieren und zu einer Frontal-Bombardierung des Gazastreifens zwingen. Auf diese Weise sollte eine pro-palästinensische, anti-israelische Front entstehen.
Die Regierung in Jerusalem hat es in der Hand, das zu verhindern. Aber sie muss ihren Blick weiten. Ob das mit Netanjahu möglich ist, darf bezweifelt werden.