Im Ringen um den „globalen Süden" braucht der Westen eine neue Strategie
Der Überraschungsbesuch von US-Präsident Joe Biden in Kiew am vergangenen Montag hatte maximale Symbolkraft. Knapp ein Jahr nach dem russischen Überfall auf die Ukraine produzierte Biden Bilder für die Geschichtsbücher. Seine innige Umarmung mit dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj mitten im Krieg hatte die Botschaft: Die USA stehen ohne Wenn und Aber an der Seite der Ukraine – dies schließt die permanente Lieferung modernster Waffen mit ein. Ein Signal auch an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass er nicht auf die Kriegsmüdigkeit Amerikas spekulieren kann.
Am Wochenende zuvor hatten sich die westlichen Staats- und Regierungschefs bei der Münchner Sicherheitskonferenz einig wie selten gezeigt. Ihre Devise: Die Ukraine muss militärisch so lange wie nötig unterstützt werden. Sie muss den von Putin angezettelten Angriffskrieg gewinnen. Die Freiheit muss gegen die Diktatur triumphieren.
Das Problem dabei: Dieses Narrativ des Westens verfängt nur in der eigenen Politik-Blase zwischen Washington, London und Berlin. In vielen Regionen der Welt ist die Rollenverteilung zwischen Opfer und Täter, Gut und Böse nicht so klar. Die Erzählung des Westens kommt dort oft nicht an.
Das musste Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei seiner Reise nach Südamerika schmerzlich erfahren. Der brasilianische Präsident Lula fuhr Scholz auf offener Bühne in die Parade, als er sich weigerte, Munition für die Gepard-Flugabwehrpanzer an die Ukraine zu liefern. Lula forderte stattdessen eine Friedensinitiative unter Vermittlung Chinas und Brasiliens.
Diese Haltung stößt im „globalen Süden" auf große Resonanz. Dort herrscht die Meinung vor, dass der Ukraine-Krieg ein „europäischer Krieg" sei. Viele Entwicklungs- und Schwellenländer in Lateinamerika, Afrika und Asien leiden unter den wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen des Ukraine-Krieges: Energie- und Nahrungsmittelpreise sind weltweit nach oben geschossen. Die Getreidelieferungen aus Russland und der Ukraine stocken. Bauern haben keine Düngemittel.
Putin ist es zum Teil gelungen, im Kampf um die Interpretationshoheit den Spieß umzudrehen. Der Westen sei schuld an der globalen Knappheit der Güter, indem er Unmengen an Waffen in die Ukraine pumpe. Damit verlängere er die verlustreichen Gefechte, so Putin. Diese Auslegung hat dort Erfolg, wo noch antiwestliche Ressentiments aus der kolonialen Vergangenheit zirkulieren. Insbesondere in Lateinamerika hält sich eine antiamerikanische Grundstimmung, die aus den US-Interventionen in Kuba, Nicaragua oder Grenada herrührt.
Auch Chinas Ansatz kommt im „globalen Süden" gut an. Peking pocht auf eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg – je schneller die Kämpfe aufhören, desto besser, lautet das Motto. Diese Linie spielt Putin in die Karten, denn die Ukraine müsste Zugeständnisse machen und wohl auf Gebiete verzichten.
Das schlagkräftigste Argument der Chinesen ist aber, dass sie sich seit Jahren als Motor der globalen Entwicklung profilieren. Das Projekt der „Neuen Seidenstraße" wurde 2013 aufgelegt, um auf der ganzen Welt Eisenbahnlinien, Straßen sowie Flug- und Seehäfen zu bauen. Mehr als eine Billion Dollar sollen in dieses Mammut-Vorhaben fließen. Peking lockt mit billigen Krediten, hat dabei aber immer auch seinen Eigennutz im Sinn: Die Bauarbeiten werden von Chinesen erledigt. Die Präsenz in den Ländern verschafft der Volksrepublik Zugang zu heißbegehrten Rohstoffen.
Der Westen hat zwar mit dem Anspruch, den Aggressor Russland in der Ukraine nicht durchkommen zu lassen, das Völkerrecht auf seiner Seite. Aber er muss sich aus der Wolke der Selbstgewissheit und gelegentlich auch Selbstbeweihräucherung befreien. Werbefeldzüge unter dem Banner der Moral reichen nicht.
Der Westen sollte den Entwicklungs- und Schwellenländern Angebote machen. Dabei geht es nicht um die Überweisung von Milliardenbeträgen, die versickern können. Besser wären konkrete Projekte wie Hilfe bei der Gründung von Startup-Unternehmen, Ausbildung von Fachkräften, Bereitstellung von Knowhow zur Errichtung von Anlagen für erneuerbare Energien. Im „globalen Süden" muss man sehen, dass der Westen vor Ort anpackt. Das schafft Zustimmung. Und hilft bei der Überzeugungs-Offensive für die Positionierung im Ukraine-Krieg.