Israels Premier will die Kämpfe in Gaza ausweiten – gegen den Rat der Militärs
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat den Preis für den Gaza-Krieg dramatisch erhöht. Die Ankündigung des israelischen Sicherheitskabinetts vom vergangenen Freitag, Gaza-Stadt einzunehmen, hat gravierende Konsequenzen. Die Schlacht wird rund 700.000 Palästinenser, die dort wohnen, in die Flucht treiben. Die humanitäre Katastrophe, die der Krieg bislang angerichtet hat, wird sich weiter verschärfen. Einen Tag vorher hatte Netanjahu im US-Sender Fox News sogar die Kontrolle des gesamten Gazastreifens als Ziel ausgerufen. Nur so könne die islamistische Terrorgruppe Hamas vernichtet werden.
Erstaunlicherweise setzt sich der Premier über die Bedenken seiner Spitzenmilitärs hinweg. „Die Besetzung des Gazastreifens würde Israel in ein schwarzes Loch ziehen – mit der Verantwortung für zwei Millionen Palästinenser, einem jahrelangen Säuberungseinsatz, der Gefahr von Guerillakrieg und – am gefährlichsten – einer Bedrohung für die Geiseln“, warnte Generalstabschef Eyal Zamir laut israelischen Medienberichten in der entscheidenden Kabinettssitzung. Nach Einschätzung Zamirs ist die Hamas derart geschwächt, dass sie Israel nicht mehr bedrohen kann. Es sei Zeit für eine Waffenruhe, die an die Rückgabe aller Geiseln geknüpft werden solle. Die Eroberung der gesamten Küstenenklave sei hingegen eine „Falle“ für die Soldaten, so Zamir.
Auch Gadi Shamni, pensionierter Generalmajor der israelischen Streitkräfte, rügte Netanjahus Schritt: „Das wird die Geiseln nicht zurückbringen, und es wird nicht zur Niederlage der Hamas führen oder diese zur Niederlegung ihrer Waffen bewegen.“ Und: „Was wird das bewirken? Es wird mehr trauernde Hinterbliebene geben, es wird Israels Ansehen in der Welt schaden, es wird die Wirtschaft untergraben, und es wird die Vertrauenskrise zwischen der Regierung und dem Militär vertiefen.“
Wenn israelische Generäle die Ausweitung des Gaza-Krieges verurteilen, wenn regelmäßig Zehntausende Israelis für einen Waffenstillstand bei Freilassung aller Geiseln demonstrieren, dann darf auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) entsprechend handeln. Sein Beschluss, Rüstungsgüter nicht mehr an Israel zu liefern, die im Gazastreifen eingesetzt werden können, ist legitim. Solidarität mit dem Land Israel und Bekenntnis zur Sicherheit der israelischen Bevölkerung: ja. Aber Deutschland sollte sich nicht zum Erfüllungsgehilfen der Netanjahu-Regierung machen, die bei der Bekämpfung des Hamas-Terrors die Tötung vieler Tausend Zivilisten als Kollateralschäden einpreist. Natürlich ist der teilweise Waffenstopp des Kanzlers nur ein symbolischer Akt und wird Netanjahu nicht von seiner Linie abbringen. Doch das Signal ist richtig. Merz muss allerdings angekreidet werden, dass er bei seinem Vorstoß maßgebliche Politiker in CDU und CSU nicht eingebunden hat. Damit hat er ohne Not Unmut in den eigenen Reihen provoziert. Merz’ Aussage vom vergangenen Sonntag, „die Grundsätze der deutschen Israel-Politik sind unverändert“, ist der Versuch, die Kritik einzufangen und den Schaden zu begrenzen.
Netanjahu muss sich wiederum vorwerfen lassen, dass er kein Konzept für den Umgang mit den Palästinensern nach Ende des Gaza-Krieges hat. Er hat sich in ein Dilemma hineinmanövriert, aus dem er kaum herauskommt. Der Premier bietet Scheinlösungen an, die in Wirklichkeit nur Fata Morganas sind. Er lehnt einen unabhängigen Palästinenserstaat ab und befindet sich damit auf Gegenkurs zu fast 150 Ländern. Sein Alternativ-Vorschlag lautet: Nach der Zerstörung der Hamas sollten „arabische Kräfte“ die Kontrolle über den Gazastreifen übernehmen. Die Palästinensische Autonomiebehörde, die das Westjordanland verwaltet, schließt er hierbei aus.
Aber welche „arabischen Kräfte“ meint Netanjahu? Es gibt sie nicht. Alle arabischen Regierungen, die nach Ende des Gaza-Krieges möglicherweise eine internationale Friedensmission unterstützen oder gar zur Entsendung eigener Truppen bereit wären, haben folgenden Forderungskatalog: Die Palästinensische Autonomiebehörde soll die Kontrolle über den Gazastreifen übernehmen, die Hamas muss aufgelöst werden, es bedarf eines politischen Pfads zu einem Palästinenserstaat. Da Netanjahu zwei dieser drei Komponenten zurückweist, gibt es für ihn nur eine Lösung: den fortwährenden Krieg.