Israels Premierminister könnte mit seiner Bodenoffensive scheitern
Israels große Bodenoffensive im Gazastreifen hat begonnen. Panzerkolonnen, Luft- und Seestreitkräfte sind angetreten, um das strategische Ziel von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu umzusetzen: die Zerstörung der islamistischen Terrororganisation Hamas und ihrer Netzwerke.
Die Militäroperation ist aus mehreren Gründen hochriskant. Die Hamas hat nicht nur bei den Attacken auf Israel brutale Gewalt angewendet. Sie benutzt auch die eigene Bevölkerung im Gazastreifen als menschliche Schutzschilde für Raketenbasen und Waffenlager. Die Hamas spielt ein zynisches Spiel: Sie spekuliert auf eine hohe Zahl von Toten und eine Täter-Opfer-Umkehr. Israel soll als der eigentliche „Aggressor“ abgestempelt werden.
Der digitale Flächenbrand nach der Raketen-Explosion am Al-Ahli-Hospital in Gaza, der in arabischen Medien ohne Überprüfung der Fakten sofort dem israelischen Militär in die Schuhe geschoben wurde, zeigt: Das Internet ist zu einem Schlachtfeld in diesem Krieg geworden. Je mehr Bilder von palästinensischen Opfern verbreitet werden, desto höher der internationale Druck auf die israelische Regierung.
Weiterer Risikofaktor für Netanjahu: Die Schlacht gegen die Hamas-Milizionäre in den weit verzweigten Tunneln unter dem Gazastreifen und der bevorstehende Häuserkampf dürften blutig werden. Je mehr israelische Soldaten fallen, desto stärker gerät Netanjahu auch innenpolitisch in die Defensive. Darauf setzt die Hamas in ihrer perfiden Logik.
Die Bodenoffensive bringt zudem das Leben der Geiseln in Gefahr. Die Hamas hat für den Fall eines Einmarsches die Tötung von Entführten angekündigt. Das würde Israels Regierung nicht nur zu Hause angreifbar machen, sondern auch weltweit für Kritik sorgen. Die Terroristen haben Bürger vieler Länder – auch Deutsche – in ihrer Gewalt.
Einen Plan, wie der Gazastreifen nach der Zerstörung aufgebaut und regiert werden soll, scheint Netanjahu nicht zu haben. Er kämpft mit der Invasion auch um sein eigenes politisches Überleben. Das absolute Versagen des Militärs beim „schwarzen Schabbat“ am 7. Oktober ist für Israel das größte Trauma seit 1945: Der Glaube an das Versprechen des Staates, die Sicherheit seiner Bürger unter allen Umständen zu gewährleisten, wurde zutiefst erschüttert. Der Regierungschef muss auf seine Kappe nehmen, dass ein Großteil der Armee-Einheiten vom Gazastreifen ins politisch aufgeheizte Westjordanland verlegt wurden, wo immer mehr jüdische Siedlungen aus dem Boden schießen.
Netanjahu versucht nun, sich auf durchsichtige Weise reinzuwaschen. Erst kritisierte er die israelischen Sicherheitsbehörden in einem Tweet, dass sie den Regierungschef nicht vor den „kriegerischen Absichten der Hamas“ gewarnt hätten. Wenige Stunden darauf löschte er den Post und entschuldigte sich. Dieses Schwarze-Peter-Spiel zeugt nicht von politischer Führungskraft. Kein Wunder, dass zwei Drittel der Israelis nur geringes Vertrauen in die Fähigkeit des Premiers haben, das Land durch den Krieg zu steuern. Der Direktor des Militärgeheimdienstes, der Armeechef und der Verteidigungsminister hatten immerhin Verantwortung für das Fiasko übernommen.
Netanjahu will seine Schwächen mit martialischer Rhetorik überdecken. Die Brandmarkung der Hamas als „die neuen Nazis“ oder die Bezeichnung der aktuellen Militär-Operation als „zweiter Unabhängigkeitskrieg“ – nach 1948 – fallen in diese Rubrik.
Diese Begriffskosmetik löst jedoch die Probleme nicht. Israel mag es gelingen, die Hamas für längere Zeit außer Gefecht zu setzen. Doch die Region wird unruhig und instabil bleiben, solange der rasante Ausbau der Siedlungen im Westjordanland anhält. Die Unterstützung für die Hamas und andere islamistische Terrororganisationen wird dann abnehmen, wenn die Siedlungen gestoppt werden und die Palästinenser einen lebensfähigen Staat bekommen. Netanjahu hat sich diese Option mit der Wahl seiner ultra-orthodoxen Koalitionspartner verbaut.
Die Bodenoffensive dürfte den Kriegspremier politisch kaum retten. Israels Ministerpräsidentin Golda Meir wurde nach dem verheerenden arabischen Überraschungsangriff im Jom-Kippur-Krieg 1973 heftig kritisiert und musste ein Jahr später zurücktreten. Gut möglich, dass Netanjahu nach der Aufarbeitung des 7. Oktobers das gleiche Schicksal bevorsteht.