Selenskyjs Besuch markiert den Neubeginn der Beziehungen zur Ukraine
So nah waren sich Deutschland und die Ukraine noch nie. Der Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Berlin und Aachen am 14. Mai 2023 markiert einen Einschnitt in den bilateralen Beziehungen. Das signalisieren sowohl die politischen Botschaften als auch die Körpersprache an dem Tag. Der lange Handschlag von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Selenskyj, das Lob des Ukrainers für Deutschland als „wahren Freund“ und „verlässlichen Verbündeten“, seine Wertschätzung der „fantastischen Solidarität“ der deutschen Bevölkerung heben dies hervor.
Dazu passt – sozusagen als Gastgeschenk – das deutsche Rüstungspaket in Höhe von 2,7 Milliarden Euro an die Ukraine. Auch wenn ein Teil davon bereits früher avisiert war: Waffen wie Kampfpanzer vom Typ Leopard 1A5 und die Luftabwehrsysteme Iris-T werden in dem von Russland angegriffenen Land dringend benötigt. Deutschland leistet damit nach den USA die zweitgrößte Militärhilfe.
Der 14. Mai steht für die „Zeitenwende“ im deutsch-ukrainischen Verhältnis, das Ende der tiefgreifenden Irrungen und Wirrungen zwischen Berlin und Kiew. Die Irritationen begannen Ende Januar 2022 mit der Ankündigung von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD), die Ukraine mit 5.000 Schutzhelmen auszustatten – „als ganz deutliches Signal: Wir stehen an eurer Seite“. Die Ukrainer hatten sich angesichts des gewaltigen Truppenaufmarsches der Russen viel mehr erhofft.
Scholz’ Zögerlichkeit bei der Frage der Waffenlieferungen kurz nach Kriegsbeginn traf in Kiew auf tiefes Misstrauen: Der Bundesregierung gehe es nur um den Bezug von billigem Gas aus Russland, lautete der Verdacht. Das Zerwürfnis gipfelte im diplomatischen Eklat, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im April 2022 ein Kiew-Besuch verwehrt wurde – der Kanzler reagierte kühl und wurde daraufhin vom damaligen ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk mit dem Vorwurf „beleidigte Leberwurst“ traktiert.
Das alles ist nun ausgeräumt. Scholz wechselte bei der Frage der militärischen Unterstützung vom Bremser zum Schrittmacher in Europa. Nach dem jüngsten Waffenpaket adelte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak den Kanzler mit dem Kompliment einer „Führungsrolle“. Gleichwohl werden die Ukrainer mit der Forderung nach westlichen Kampfflugzeugen auch in Berlin weiter Druck machen. Selenskyj brachte eine internationale „Kampfjet-Koalition“ ins Spiel – ein Vorstoß, bei dem sich Scholz schmallippig gab.
Der 14. Mai unterstreicht nicht nur den neuen Gleichklang zwischen Deutschland und der Ukraine. Er symbolisiert auch eine noch engere Verbindung zwischen der Ukraine und der EU. Mit der Verleihung des renommierten Aachener Karlspreises an Selenskyj und das ukrainische Volk am Sonntag rückt die Europäische Union nach Osten. Der Preis, der den Einsatz für „Europa und die europäischen Werte“ würdigt, wertet damit die Verteidigungsschlacht der Ukrainer gegen die russischen Invasoren auf.
Zugespitzt formuliert: Die Ukrainer wehren eine Aggression ab und stehen damit für die ureuropäischen Werte Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte. Sie sind eine Art Sicherheitsvorposten gegen den imperialistischen Expansionskurs des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der Belarus, die Ukraine und Russland als „ein Volk“ vereinen will. Scholz spannte in seiner Laudatio in Aachen den Bogen des europäischen Freiheitskampfes von der polnischen Solidarność-Bewegung unter Lech Walesa in den 1980er-Jahren über den Mauerfall bis hin zu den Maidan-Protesten 2013 und 2014.
Die EU definiert sich derzeit über den Ukraine-Krieg neu. Nach jahrelangem Polit-Fingerhakeln um Kompromisse bei Haushaltsfragen oder Migrationsthemen wird die Abwehr von Aggression zu einer neuen Herausforderung. Es gilt, die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren in einer kollektiven Anstrengung zu bewahren. Triumphiert Putin, breitet sich das Gesetz des Dschungels weltweit aus.
Die Verteidigung der Freiheit wird Teil der politischen DNA der EU. Auch wenn der Beitritt der Ukraine noch dauern wird: Die Gemeinschaft hat gegenüber dem tapfer um sein Überleben ringenden Land eine langanhaltende Verpflichtung. Der Kanzler hat dies deutlich gemacht. Die Ukrainer haben ein moralisches Anrecht darauf.