Deutschland und die EU sollten sich bereits heute auf die US-Wahl vorbereiten
Durch den plötzlichen Rückzug von Joe Biden werden die Karten im US-Präsidentschaftswahlkampf neu gemischt. Nach dem gescheiterten Attentat sah sich Donald Trump bereits als der sichere Sieger gegen den immer zerbrechlicher wirkenden Amtsinhaber. Nun hat Trump sehr wahrscheinlich mit der 19 Jahre jüngeren Kamala Harris eine Gegnerin, die sein gesamtes bisheriges Wahlkampf-Konzept über den Haufen wirft.
In Berlin drücken viele Harris die Daumen. Auch wenn aus Kreisen der Bundesregierung immer wieder hervorgehoben wird, dass man Kontakte zu beiden politischen Lagern habe. Tatsache ist: Unter einem Präsidenten Trump dürfte der Druck auf Deutschland in vielerlei Hinsicht zunehmen. Der Republikaner würde die militärische Unterstützung für die Ukraine radikal verringern, vielleicht sogar auf null. Bislang betrug die US-Hilfe für die Ukraine mehr als 100 Milliarden Dollar.
Trump selbst fuhr bei einer Wahlkampfveranstaltung im Februar eine gewaltige Drohkulisse auf. Wenn Nato-Länder nicht genug in ihre Verteidigung investierten, könne Russland mit ihnen machen, „was auch immer zur Hölle es will“.
Unter Trump würde Sicherheit zum Wirtschaftsgut, auch für Verbündete. Auf die Frage, ob die USA Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs beschützen würden, sagte er: „Ich denke, Taiwan sollte uns für die Verteidigung bezahlen. Wir sind nichts anderes als eine Versicherungsgesellschaft.“
Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass ein Nato-Exit unmittelbar bevorsteht. „Kurzfristig ist unter Trump nicht mit einem Nato-Austritt der USA zu rechnen – zumal der Senat bei dieser Frage noch mitzureden hätte. Auch würden große Teile der Republikaner dies zumindest derzeit nicht befürworten“, unterstreicht Martin Thunert vom Heidelberg Center for American Studies der Uni Heidelberg. „Trump wird aber Bedingungen stellen, dass die Europäer deutlich mehr für ihre Verteidigung ausgeben. Das gilt vor allem für große Nato-Staaten wie Deutschland.“
Trump wirbt allerdings in seiner großspurigen Rhetorik, den diplomatischen Zauberschlüssel für alle internationalen Krisen gefunden zu haben. Er sei in der Lage, den Krieg zwischen Moskau und Kiew „innerhalb von 24 Stunden“ beizulegen. Wie ein solcher Wunder-Deal aussehen soll und ob Trump ein Diktat-Frieden nach dem Geschmack des russischen Präsidenten Wladimir Putin vorschwebt, ließ er offen.
In der Wirtschaftspolitik wird Trump erneut auf Protektionismus setzen. Er hat bereits angekündigt, die Zölle für Ausfuhren nach Amerika um zehn Prozent zu erhöhen. Das würde deutsche Unternehmen besonders hart treffen. Die USA sind der größte Exportmarkt für die deutsche Wirtschaft.
Der außenpolitische Kurs einer möglichen Präsidenten Kamala Harris ist noch nicht klar definiert. Die bisherigen Äußerungen der Demokratin deuten aber auf Kontinuität: „Für Präsident Biden und mich bleibt unser unumstößliches Bekenntnis zur Nato heilig“, betonte die US-Vizepräsidentin bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Amerikas Unterstützung für die Ukraine dürfte sich unter Harris nicht wesentlich ändern – wenn der Kongress mitspielt. Doch auch dann werden die Vereinigten Staaten verlangen, dass die Europäer mehr als bisher für ihre Verteidigung ausgeben. Der Hinweis auf das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr wird nicht reichen.
Andere Akzente als Biden wird Harris vermutlich in der Nahost-Politik setzen. „Sie würde die US-Unterstützung von Israel wahrscheinlich mit mehr Bedingungen an die Netanjahu-Regierung im Gaza-Krieg verbinden. Das kommt auch dem Ansatz einiger europäischer Regierungen mehr entgegen“, betont Dominik Tolksdorf von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Unter Trump müsste sich die Bundesregierung auf einen rauen Wind aus Westen einstellen. Aber auch mit einer Präsidentin Harris würden für die Europäer die Bäume nicht in den Himmel wachsen. „Die starke emotionale transatlantische Bindung, die Joe Biden auch aufgrund seiner Generation und seiner langen Erfahrung im Senat hatte, dürfte so nicht bleiben – egal, wer ihm bei den Demokraten nachfolgt. Da dürfen wir uns keine Illusionen machen“, konstatiert der Politologe Thunert. Trump oder Harris: Die Planungsstäbe in Berlin und Brüssel sollten bereits heute Szenarien entwerfen.