Die Verhaftung von Ekrem Imamoglu kann das Land an einen Kipppunkt bringen
Die Autokraten haben die Welt immer mehr im Griff. US-Präsident Donald Trump wirbelt mit der Zollkeule und droht mit der Annexion von Grönland und Kanada. Sein russischer Amtskollege Wladimir Putin gibt vor, eine Waffenruhe im Ukraine-Krieg zu befürworten, und bombardiert doch täglich zivile Ziele im Nachbarland. Der chinesische Staatschef Xi Jinping rückt mit seinen Militärmanövern immer enger an Taiwan heran. Zwischen Washington und Peking geben die starken Männer in der internationalen Politik den Takt vor. Die Parlamente sind nur noch Foren zum Abnicken politischer Beschlüsse.
Von diesem Großklima der Repression fühlt sich offenbar auch der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan ermutigt. Die Verhaftung des populären Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu wenige Tage, bevor ihn seine sozialdemokratische Partei CHP zum Präsidentschaftskandidaten küren wollte, ist die politische Kaltstellung eines unliebsamen Konkurrenten. Das Timing ist verräterisch. Die Vorwürfe der Korruption und des Terrorismus gegen Imamoglu sind konstruiert. Die Justiz in der Türkei ist längst ein willfähriges Organ des wie ein Monarch auftretenden Erdogan.
Millionen Türkinnen und Türken protestierten gegen die Verhaftung Imamoglus – nicht nur in der liberalen Metropole Istanbul, sondern auch in anderen Städten des Landes. Selbst in Hochburgen von Erdogans islamisch-konservativer AKP-Partei gingen Tausende auf die Straße. Junge, Alte, Linke und Rechte verbreiteten die Botschaft: „Dieses Mal hat Erdogan den Bogen überspannt.“
Doch der Präsident gab sich unbeeindruckt. Wie alle Langzeit-Autokraten leidet der 71-Jährige unter einem zunehmenden Realitätsverlust. Zu Beginn seiner politischen Karriere galt er noch als Hoffnungsträger. In seiner Zeit als Ministerpräsident ab 2003 sorgte Erdogan für einen Wirtschafts-Boom. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Meinungsfreiheit erweitert, der Kampf gegen die Folter verstärkt. Die Kurden bekamen mehr Freiheitsrechte. In der Außenpolitik verfolgte Erdogan zunächst die Annäherung der Türkei an die EU mit dem Ziel eines baldigen Beitritts.
Doch die Reformen erwiesen sich als Strohfeuer. Im Laufe der Jahre trat Erdogan zunehmend autoritärer auf. Die Gezi-Proteste 2013 in Istanbul warfen erstmals ein Schlaglicht auf den sich verhärtenden Regierungsstil. Die Welle begann im Mai 2013 mit Demonstrationen gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks. Der Konflikt eskalierte infolge eines gewaltsamen Polizeieinsatzes. In mehreren türkischen Großstädten kam es zu Kundgebungen.
2014 wurde Erdogan zum Präsidenten gewählt. Bald danach machte er die Politik der eisernen Faust zu seinem Markenzeichen. Nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs am 15. Juli 2016 beschloss das Parlament den Ausnahmezustand. Zehntausende Beamte wurden aus dem Staatsdienst entlassen. Polizisten, Richter und Staatsanwälte kamen in Untersuchungshaft.
In den letzten Jahren trug Erdogans verfehlte Finanzpolitik maßgeblich zur Wirtschaftskrise bei. Sein Kurs niedriger Zinssätze trieb die Inflationsrate auf rund 40 Prozent. Die Lira wurde stark abgewertet. Nach der Verhaftung Imamoglus gingen türkische Aktienmärkte in den Keller. Ausländische Anleger zogen ihr Geld ab.
In der Türkei hat sich ein toxisches Gemisch zusammenbraut. Wenn die aktuellen Demonstrationen anhalten, was Imamoglus CHP-Partei angekündigt hat, drohen die dringend benötigten Investitionen aus dem Ausland zu versiegen. Doch Erdogan scheint diese Risiken zu ignorieren. Er baut darauf, dass sein Land international gebraucht wird: Der Flüchtlings-Deal mit der EU hat bislang verhindert, dass mehr als drei Millionen Migranten von der Türkei Richtung Gemeinschaft strömen. Zudem ist das Nato-Mitglied ein wichtiger Akteur, der im Ukraine-Krieg zu beiden Seiten Kontakt hat und in Syrien eine bedeutende Rolle spielt.
Das ist der Grund, warum aus Brüssel nur gedämpfte Töne der Kritik kommen. Ob die Demonstrationen in der Türkei zu einem für Erdogan gefährlichen Kipppunkt führen, wird allerdings nicht in Europa entschieden. Es hängt davon ab, wie stark und wie nachhaltig die Proteste der Türkinnen und Türken sind. Das Land befindet sich am Scheideweg zwischen autoritärer Versteinerung oder Aufbruch.