Die Aufregung um Merz’ Asylvorstoß greift zu kurz: Es geht um viel mehr
Was für ein Wahlkampf! Die Polarisierung der politischen Lager hat sich gut zwei Wochen vor der Bundestagswahl extrem hochgeschaukelt. Der Streit um die richtige Asylpolitik wird mit einer Unerbittlichkeit ausgetragen, die sogar vor religiösen Kategorien nicht zurückschreckt. Dass Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz bereit war, eine Begrenzung der Migration mit den Stimmen der AfD im Parlament durchzuboxen, sei ein „Sündenfall“, wetterte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Das „Tor zur Hölle“ sei geöffnet. Geht’s, bitte schön, auch eine Nummer kleiner?
Richtig ist: Merz hat ohne Not ein Votum über zwei Anträge auf die Tagesordnung gesetzt, die erkennbar nur mit den Stimmen der AfD durchgehen konnten. Das war ein strategischer Fehler. Der CDU-Partei- und Fraktionschef hat sich dadurch in eine Rechtfertigungs-Zwangslage manövriert. Er musste zurückrudern und immer wieder betonen, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht infrage komme. Zudem hat er sich angreifbar gemacht und landesweite Demonstrationen gegen einen Rechtsruck provoziert. Dies ist ein Mobilisierungs-Wahlgeschenk für SPD und Grüne.
Klüger wäre es gewesen, Merz hätte sein Programm einer Asylwende den Bundesbürgern zur Wahl gestellt. Botschaft: Wer damit einverstanden ist, macht am 23. Februar bei der Union sein Kreuz. Man kann über einzelne Punkte in Merz’ Migrationsvorstoß streiten. Ja, die Zurückweisung von Asylbewerbern ohne Dokumente an der Grenze mag juristisch angefochten werden. Aber das gesamte europäische Asylsystem funktioniert derzeit nicht. Kaum jemand hält sich an die Dublin-III-Verordnung, wonach ein Asylgesuch in dem Land bearbeitet werden muss, in dem ein Flüchtling erstmals EU-Boden betritt.
Dennoch bleibt festzuhalten: Laut „ARD-Deutschlandtrend“ gibt es eine Mehrheit für Merz’ Migrationskurs. Zwei Drittel der Deutschen sind für dauerhafte Grenzkontrollen. Die Anschläge von Mannheim, Solingen, Magdeburg und zuletzt Aschaffenburg haben etwas im Land verändert: Das Sicherheitsgefühl etlicher Bürger ist verletzt. Zu viele Flüchtlinge, die abgeschoben werden müssten, tauchen einfach unter.
Hinzukommt, dass die Kapazitätsgrenze des Landes erreicht und teilweise schon überschritten ist. In den letzten Jahren wurden mehr als 3,5 Millionen Menschen aufgenommen und versorgt. Doch jetzt sind viele Kommunen überlastet und haben keine Plätze mehr. Es fehlt an Geld.
Dass Merz diese weit verbreitete Stimmung aufgegriffen und in seiner politischen Agenda thematisiert hat, ist ihm nicht vorzuwerfen. Die Verteufelungs-Strategie von SPD und Grünen, die den Unionsmann als „Totengräber der demokratischen Mitte“ brandmarken, ist auch wahltaktischer Theaterdonner.
Dass die Situation nach Aschaffenburg nicht mehr haltbar ist, dämmert mittlerweile selbst den Grünen. Ihr Kanzlerkandidat Robert Habeck hat am Montag eine „umfassende Sicherheitsoffensive“ vorgestellt. Haftbefehle gegen Islamisten und Gefährder sollen umgehend vollstreckt werden, die Bundespolizei mehr Befugnisse erhalten. Klingt nach Law and Order, ein bisschen zumindest.
Was in der Debatte um die „Brandmauer“ gegen die AfD oft vernachlässigt wird: Die mehr als 20 Prozent, die die Partei nach aktuellen Umfragen hat, sind auch eine Misstrauenserklärung vieler Wählerinnen und Wähler an die politische Klasse. Nicht nur mit Blick auf Defizite bei der Migration. Die Wirtschaft kommt nach zwei Rezessionsjahren nicht auf Trab. Unternehmen und Verbraucher ächzen unter happigen Energiepreisen und zu viel Bürokratie.
Die Beiträge für Kranken- und Rentenversicherung werden in schwindelerregende Höhen steigen, wenn das System nicht grundlegend reformiert wird und alle – Angestellte, Selbstständige, Beamte, Rentner und Politiker – in einen Topf einzahlen. Um die Alterung der Gesellschaft zumindest in Teilen zu kompensieren, muss die Politik eine Anwerbe-Offensive von ausländischen Fachkräften starten, die die deutsche Wirtschaft braucht. Das ist jedoch ein anderer Pfad als die Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen.
Die künftige Bundesregierung hat maximal vier Jahre Zeit, diese gewaltigen Herausforderungen anzupacken. Falls ihr das nicht gelingt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die AfD stärkste Partei wird. Es drohen dann österreichische Verhältnisse.