Aus Sorge vor einer Niederlage Kiews wirft der Westen alte Tabus über Bord
Frage: Wie haltbar sind rote Linien – also Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen – im Ukraine-Krieg? Antwort: Nicht sonderlich, denn das Geschehen auf dem Schlachtfeld ist dynamisch und lässt sich nicht voraussagen.
Jetzt fällt eine rote Linie, was vor Kurzem noch undenkbar gewesen wäre: Der Westen liefert der Ukraine Waffen, die diese auch für Angriffe auf russische Ziele hinter der Grenze einsetzen kann. Ein historischer Einschnitt. Die „New York Times“ schrieb, es sei das erste Mal, dass ein amerikanischer Präsident begrenzte Militärschläge mit US-Waffen gegen Stellungen auf dem Territorium eines nuklear bewaffneten Widersachers erlaubt.
Der Grund für diesen radikalen Kurswechsel ist klar. Seit Anfang Mai attackiert Russland Charkiw, die zweitgrößte ukrainische Stadt im Nordosten des Landes. Sie liegt rund 30 Kilometer hinter der Grenze. Die Gleitbomben und Marschflugkörper zerstören Kraftwerke, Baumärkte, Wohnhäuser. Die russischen Truppen versuchten an mehreren Punkten der Front, die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchstoßen.
Im Westen machte sich die Erkenntnis breit, dass ein russischer Durchbruch die Ukraine massiv schwächen und vermutlich an den Rand einer Niederlage bringen würde. Verliert die Ukraine, ist mit weiteren imperialistischen Vorstößen von Kremlchef Wladimir Putin zu rechnen, so die gemeinsame Einschätzung. Ohne die Fähigkeit, die russischen Angriffswaffen auf russischem Gebiet auszuschalten, wäre die Widerstandskraft der Ukrainer über kurz oder lang erschöpft.
Vor diesem Hintergrund bekam das Argument der Eskalationsgefahr immer mehr Risse. Erst deutete der britische Außenminister David Cameron an, dass Kiew selbstständig über die Einsatzziele westlicher Waffen entscheiden könne.
Dann preschte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor. Bei der Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz am 28. Mai im brandenburgischen Schloss Meseberg sagte er: „Wir müssen ihnen erlauben, militärische Stützpunkte zu neutralisieren, von denen aus Raketen abgeschossen werden.“
Scholz gab sich wesentlich zurückhaltender und verbarg die deutsche Zustimmung hinter nebulösen Formulierungen. „Die Ukraine hat völkerrechtlich alle Möglichkeiten für das, was sie tut“, erklärte er. „Die Ukraine ist angegriffen und darf sich verteidigen.“ Von den Lieferungen der Bundeswehr eignen sich für derlei Operationen vor allem die Panzerhaubitze 2000 und Mars-II-Raketenwerfer mit einer Reichweite von 70 bis 85 Kilometern.
Der entscheidende Schwenk kam jedoch von US-Präsident Joe Biden. Die Ukraine habe das Recht, mit amerikanischen Rüstungsgütern Ziele in Russland anzugreifen, unterstrich der Chef des Weißen Hauses. Das gilt allerdings nicht für ATACMS-Raketen, die bis zu 300 Kilometer weit fliegen können.
Die neueste Kehrtwende ist kein Einzelfall. Der Westen hat sich bereits von mehreren roten Linien verabschiedet. Dies trifft etwa auf die Verschickung von Kampfpanzern (Abrams und Leopard) zu, die Biden und Scholz im Januar 2023 angekündigt hatten. Auch die Lieferung von amerikanischen F16-Jagbombern, die Biden im August 2023 genehmigt hatte, gehört dazu. Insgesamt wollen Dänemark, Belgien, Norwegen und die Niederlande der Ukraine rund 90 Maschinen zur Verfügung stellen.
Putins Drohungen, bei der Entsendung von amerikanischem und europäischem Militärmaterial auch den Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine nicht auszuschließen, hatten den Westen lange zurückgehalten. Das Risiko einer nuklearen Eskalation wirkte als Bremse. Doch die Gefahr einer Niederlage der Ukraine drängte den Westen zu einer Neubewertung der Lage.
Auch nach dem neuesten Schritt baut Putin auf Einschüchterung: Der Westen müsse mit „ernsthaften Konsequenzen“ rechnen, die atomaren Kräfte Russlands seien in Alarmbereitschaft. Vieles spricht dafür, dass auch dieses Manöver nur den Zweck hat, in der Öffentlichkeit Furcht zu säen.
In Wahrheit wird Putin von rationalem Kalkül geleitet, er denkt langfristig. An einer militärischen Konfrontation mit der Nato und vor allem mit der nuklearen Supermacht Amerika hat er kein Interesse. Der Kremlchef wartet den Verlauf der US-Präsidentschaftswahl am 5. November ab. Macht sein Wunsch-Kandidat Donald Trump das Rennen, hat er seiner Einschätzung nach ohnehin freie Bahn.