In den großen Hafenstädten Europas läuten die Alarmglocken: Die Drogenmafia hat sich breitgemacht. Sie schleust Rauschgift im Milliardenwert in die EU, unterwandert Behörden und die Politik. Nun kämpft Europa koordiniert dagegen an.
Merkwürdiges tat sich vor einigen Monaten im Hamburger Hafen. Nachts stiegen Männertrupps über den Stacheldrahtzaun am Containerterminal Altenwerder. Dort streiften sie zwischen tausenden Boxen suchend umher, ausgerüstet mit leeren Sporttaschen, Bolzenschneidern, Plomben zum Versiegeln von Containern, GPS-Trackern und Handys mit Powerbanks. Die Polizei griff zu und nahm 45 Eindringlinge fest – keiner war älter als 30 Jahre. Trotz der Festnahmen: Nichts Genaues über die Aktion weiß man nicht, weil die Täter eisern über ihren Auftrag schwiegen. Dennoch scheint klar zu sein: Die ungebetenen „Besucher“ waren sogenannte „Rausholer“. Sie sollten im Auftrag der niederländischen Rauschgiftmafia abhandengekommene Container mit heimlich hineingepacktem Kokain aufspüren.
Bedrohliche Lage in Europas Häfen
Der Vorfall in Hamburg hat das Schlaglicht auf den hohen Organisationsgrad des organisierten Verbrechens in Europas Hafenstädten geworfen. Ob in Barcelona, Antwerpen, Rotterdam, Genua, Marseille oder anderswo – überall hat sich die Drogenmafia krakenartig breitgemacht. Das Neue: Die Kriminellen unterwandern Hafenbehörden, städtische Behörden und die Politik. Erst Ende Januar hat das Hamburger Landgericht in einem seiner größten Rauschgiftprozesse elf Männer zu sechs bis 15 Jahren Haft verurteilt. Das Alarmierende: Einige nutzten für ihre Geschäfte berufliche Positionen in Hafenbetrieben, waren also korrupt und gekauft. Wert des Kokains: 280 Millionen Euro.
Die Lage ist in anderen europäischen Häfen ebenso bedrohlich. Deshalb haben sich 14 betroffene Stadt- und Regionalregierungen mit der EU und der grenzüberschreitenden Polizeibehörde Europol vernetzt. Ziel: Gemeinsam Ordnung schaffen. „Wir müssen uns miteinander verbinden und sicherstellen, dass, wenn die Maßnahmen in einem Hafen ergriffen werden, die kriminellen Gruppen nicht sofort in einen anderen Hafen umziehen,“ sagt EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Doch das ist leichter gesagt als getan. Die streng abgeschirmten Banden tragen Streitigkeiten äußerst brutal aus. Mord und Folter gehören zum Arbeitsstil. Im „Schnee-Zentrum“ Antwerpen ist der Kokain-Krieg besonders eskaliert. Abrechnungen und Machtkämpfe forderten voriges Jahr ein erstes unschuldiges Opfer: Eine Gewehrkugel schlug durch ein geschlossenes Tor und tötete die völlig unbeteiligte elfjährige Firdaous. Im Herbst 2023 flogen bei einer vermutlich von der Mafia verursachten Explosion 20 Häuser in die Luft. Der damalige belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne musste zweimal wegen Drohungen aus dem Drogenmilieu untertauchen.
Antwerpens Bürgermeister Bart De Wever, ein Rechtspopulist und aussichtsreicher belgischer Premierministerkandidat, hat seine Kollegen in anderen EU-Hafenstädten davor gewarnt, das organisierte Drogenverbrechen noch länger auf die leichte Schulter zu nehmen. Deren Millionengewinne würden gezielt in die lokale Wirtschaft investiert, um Abhängigkeiten zu schaffen. Sie korrumpieren Logistikmitarbeiter, übernehmen IT-Abfertigungssysteme und unterwandern Ämter, Behörden, Justiz und sogar die Polizei. Die Brutalität kriegführender Banden hat ein „beispielloses Ausmaß“ erreicht, sagt die Chefin der EU-Polizeibehörde Europol Catherine De Bolle: „Wir haben sogar Folterkammern in der EU gefunden, eingerichtet in ausgedienten Containern – das kennen wir bisher nur aus Lateinamerika.“

Selbst weit weg von den Häfen hat sich die Mafia eingenistet. In Brüssel zum Beispiel. Dort finden Schießereien hemmungslos mitten im bevölkerten Stadtzentrum statt. Vergangenes Jahr starben in Europas Hauptstadt sieben Menschen durch Gewalt im Zusammenhang mit Drogen, 131 wurden verletzt.
Justizminister Paul Van Tigchelt von den Liberalen hört den Alarm: „Ich verstehe, dass die Leute in den betroffenen Vierteln in Brüssel das Gefühl haben, dass zu wenig passiert.“ Zugleich versucht der Politiker zu beruhigen: „Ich bin überzeugt, dass die Polizei und die Justiz erfolgreich gegen dieses Problem vorgehen können.“ Das glauben aber immer weniger Brüsseler angesichts eines kompakten Milieus in der Hand von Albanern, deren Arm bis ins über 1.000 Kilometer entfernte Marseille reicht.
Die südfranzösische Mittelmeermetropole ist ein weiteres Aktivitätenzentrum der EU-Drogenmafia. Genau 49 Menschen wurden im vergangenen Jahr in Marseille bei Schießereien getötet. „Zum Einsatz kommen Killerkommandos und Kriegswaffen vom Typ Kalaschnikow“, beobachten die Euronews-Reporter Hans von der Brelie und Eva Kandoul. Eine große Sorge für Europol in Marseille ist die Einbeziehung von Kindern in das tödliche Geschäft, teilt Europol-Direktorin De Bolle mit. Es brächten sich bereits Kinder gegenseitig mit Kalaschnikows um.
Sicherheitsrisiko Drogenkriminalität
Wie in Brüssel, so in Marseille: Die Menschen fordern die Politik auf, „etwas zu tun“. Die Justiz solle „endlich ernsthaft ermitteln“, diktierte Haushaltshilfe Laetitia Linon den Euronews-Reportern auf dem Friedhof Saint-Pierre ins Notizbuch. Dort liegt ihr Neffe Rayanne. Unbekannte Killer hatten den 14-jährigen Jungen gezielt, aber „versehentlich“ erschossen – sie hielten ihn für den Schmiere-Steher einer rivalisierenden Bande. Laetitia bitter: „Zwei, drei Tage später dealen die einfach weiter, während mein Neffe in der Leichenhalle liegt.“
Die französische Politik reagiert auch: Mehr neue Richter. Mehr neue Polizisten. Doch im Laufe der Zeit haben sich einflussreiche Netzwerke gebildet, die immer größer, mächtiger und undurchdringlicher werden. Helfer finden sie in sozial schwierigen Gegenden, wo Drogenhandel ein Geschäft heraus aus der Armut verspricht. Schmiere-Steher bekommen 150 Euro pro Tag, Kleindealer 300, berichtet Euronews. Den Nachwuchs rekrutiert die Drogenmafia über Jobangebote auf der Social-Media-Plattform Telegram.
Unterdessen geht der Drogenkampf Europas 10.000 Kilometer entfernt weiter: in Südamerika. Auf Kokaplantagen wächst der Grundstoff für Kokain. Das geht über Häfen wie Guayaquil in Ecuador oder Cartagena in Kolumbien auf die weite Reise. Mächtige Kartelle kontrollieren auch dort eines der weltweit lukrativsten Geschäfte. Blutig verteidigen sie ihren Einfluss und kaufen sich die Politik.
Ecuador ist ein Hotspot dieser Verbrechen geworden. Das Land zwischen Amazonasdschungel, Andenhochland und Pazifikküste galt bislang als friedlich. Nun legt sich der junge Präsident Daniel Noboa – erst vor Kurzem ins Amt gekommen – mit gleich 20 Mafia-Organisationen an.
„Wir befinden uns im Kriegszustand,“ erklärte der erst 36-jährige Sohn eines Bananenmagnaten vor wenigen Monaten kurz nach seiner Amtsübernahme. Gewalt und Terror folgten. Die Kriminellen besetzten zeitweise einen Fernsehsender. Sie nahmen Gefängniswärter als Geiseln. Und sie befreiten Adolfo Macías alias „Fito“, den Boss der Bande „Los Choneros“, aus einem Hochsicherheitstrakt – zum zweiten Mal.
Europa beobachtet die schwere Gewalt an der Westküste Südamerikas mit Sorgen. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell sprach der Regierung in Quito ausdrücklich Mut zu. Ecuador kämpfe gegen einen „direkten Angriff auf die Demokratie und den Rechtsstaat“.
Und bei uns? Wird die jetzt gegründete europäische Hafenallianz etwas ausrichten? Erst vergangenen Monat haben britische Ermittler 5,7 Tonnen Kokain auf dem Weg von Southampton nach Hamburg sichergestellt. Es lag in einem Container mit Bananen. Geschätzter Straßenverkaufswert: Rund 525 Millionen Euro. Bei solchen Summen wird klar: Der Kampf gegen die Mafia ist kein Pappenstiel. Drogenkriminalität ist eines der größten Sicherheitsrisiken Europas.