Bislang war die Herstellung von Fäden aus künstlicher Spinnenseide eine große Herausforderung. Doch nun hat ein Team des japanischen Riken-Centers ein Gerät entwickelt, mit dessen Hilfe die komplexe Molekularstruktur natürlicher Spinnenseide exakt nachgebildet werden kann.
Spinnenseide, die größtenteils aus Proteinen besteht, extrem dehnbar, zäh, reißfest, ungiftig, wasserfest, leicht, hitzebeständig, antibakteriell, biokompatibel sowie biologisch abbaubar ist, wird häufig als „Kevlar der Natur“ bezeichnet. Sie kann unter Spannung fast so stark sein wie Stahl, hat jedoch eine sechsmal geringere Dichte und ist daher sehr leicht. Sie ist reißfest wie Stahl und 2,5-mal reißfester als Nylon, aber daneben auch dehnbar wie Gummi. „Spinnenseide hat mithin hervorragende mechanische Eigenschaften, die keine menschengemachte Faser bisher erreichen konnte“, so die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren. „Die Seidenfasern können um das Dreifache ihrer Länge gedehnt werden ohne zu reißen und haben gleichzeitig eine sehr hohe Festigkeit. Verglichen mit einem gleich schweren Stahlfaden ist die feste Seide der Spinne vier Mal belastbarer.“
Auch einen Belastungs-Vergleich mit dem in schusssicheren Westen eingebauten Kevlar brauchen natürliche und biomimetisch nachgebaute Spinnenseiden nicht zu fürchten. Denn das meist verwendete Kevlar kommt lediglich auf einen Wert von rund 50 Megajoule pro Kubikmeter, während die Spinnenseide mit etwa 150 Megajoule pro Kubikmeter punkten kann. Große Festigkeit und hohe Elastizität sind natürlich zwei Eigenschaften, die in der modernen Technik und Ingenieurskunst einen zentralen Stellenwert haben. Auch in der Medizin gibt es theoretisch eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten, vom Ersatz durchtrennter Nervenbahnen über den Knochen- und Knorpel-Austausch bis hin zur Alternative für Metallprodukte wie Schrauben.
Einsatzmöglichkeiten in der Medizin
Schon in der griechischen Antike wurden Spinnennetze schon medizinisch-therapeutisch eingesetzt: Denn man hatte erkannt, dass durch das Auftragen von Spinnweben Blutungen schneller gestoppt wurde und der Heilungsprozess beschleunigt werden konnte, ohne dass der Fremdkörper eine Entzündung der Wunde verursachte.
Bis vor wenigen Jahren hat man sich zu Forschungszwecken um die aufwändige und teure Gewinnung von natürlicher Spinnenseide bemüht. Dafür mussten die Spinnen in speziellen Laboren gemolken werden. Dabei hat sich unter den schätzungsweise 45.000 Spinnenarten weltweit vor allem die Spezies der tropischen sogenannten Goldenen Radnetzspinne als absolute Seidenspezialistin hervorgetan. Pro Melkgang wird das Tier mit Gaze auf einem Stück Schaumstoff gehalten. Dann entnimmt man mit Hilfe einer Pinzette aus den Spinnendrüsen einen aufwickelbaren Faden. So können zwischen 50 und 400 Meter Faden gewonnen werden, da liegen die Mengenangaben extrem auseinander. Allerdings reicht das für einen industriellen Einsatz natürlich bei Weitem nicht aus. Außerdem können die meisten Spinnen wegen ihrer kannibalischen Vorlieben nicht so einfach zu Zuchtzwecken gemeinsam in Terrarien eingesperrt werden und lassen sich schon gar nicht sozusagen per Knopfdruck zum Spinnen eines Netzes bewegen. Denn sie regulieren ihre Seidenproduktion und beginnen nur dann mit dem Netzbau, wenn es dafür eine Notwendigkeit gibt.
Daher war es nur logisch, auf Basis von modernen Erkenntnissen der Biotechnologie und Genetik an der Entwicklung von künstlicher Spinnenseide zu arbeiten. Ein erster Ansatz dafür war, Seidenproteingene der Spinne in andere Organismen einzusetzen. Diese sogenannten transgenen Organismen wie Bakterien, Hefe-Pilze, aber auch Zellen von Pflanzen, Insekten oder Säugetieren waren tatsächlich dazu in der Lage, Spinnenseidenproteine zu erzeugen. Allerdings war die Produktion vergleichsweise ineffizient, weil es immer wieder zu Spinnengen-Ablesefehlern gekommen war. Der nächste Schritt war daher der Einsatz von mit Hilfe von Klon-Techniken erzeugten künstlichen Spinnenseidenproteinen bei den jeweiligen transgenen Wirten, beispielsweise dem Darm-Kolibakterium. Zwar kann inzwischen künstliche Spinnenseide hergestellt werden, doch bislang konnte nicht bis ins letzte Detail geklärt werden, welche molekularen Strukturen letztendlich für die einzigartige Kombination der Spinnenseide-Eigenschaften verantwortlich sind.
Bekannt ist, dass es sich bei Spinnenseide um eine Biopolymerfaser handelt, die aus großen Proteinen mit sich stark wiederholenden Sequenzen, den sogenannten Spidroinen, besteht. Diese Spidroine setzt die Spinne in ihrer Spinnendrüse zu einem Seidenfaden zusammen, indem der Proteinlösung schrittweise Wasser entzogen wird, so dass sich die wasserabweisenden Abschnitte der Proteine zusammenlagern können; dabei wird die Fadenbildung zusätzlich noch durch die Scherkräfte unterstützt, die beim Absondern der Basissubstanz entstehen. Wichtig ist zudem, dass sich in den Seidenfasern oder Proteinsequenzen molekulare Unterstrukturen befinden, sogenannte Beta-Faltblätter, deren korrekte Ausrichtung die notwendige Vorbedingung für die Ausprägung der einzigartigen mechanischen Eigenschaften der Spinnenseidefasern ist.
Künstliche Spinnenseidedrüse
Die Herausforderung in der aktuellen Forschung ist nicht mehr die künstliche Spinnenseide als solche, sondern die Herstellung von Fäden, die möglichst nah an das natürliche Original heranreichen sollten. Die Spinne drückt einfach die in ihrem Drüsensack in kugelförmigen Strukturen gelagerten Seidenprotein-Paare als Lösung in ihren Spinnkanal, wo störende, sich noch an der Oberfläche der Seidenproteine befindliche Wassermoleküle entfernt werden. Nachdem die Lösung den Spinnkanal durchlaufen hat, kann das Tier seine perfekten geometrischen Netze ausgestalten. Das Durchpressen der Lösung durch einen engen Kanal wurde schon vor einigen Jahren von schwedischen Forschern als elementarer Bestandteil einer die Natur imitierenden künstlichen Spinnenseiden-Produktion angesehen.
Genau an diesem Punkt hatten jüngst Wissenschaftler des japanischen RIKEN Center for Sustainable Resource Science gemeinsam mit Kollegen des RIKEN Pioneering Research Cluster unter Federführung von Keiji Numata angesetzt: Sie entwickelten ein spezielles Gerät, gewissermaßen eine künstliche Spinnenseidendrüse, mit dessen Hilfe und auf Basis der sogenannten Mikrofluidik die Produktion einer künstlichen Spinnenseide möglich werden könnte, die der natürlichen Spinnenseide sehr ähnlich sein könnte. „Die Entwicklung von künstlicher Spinnenseide mit ähnlichen Eigenschaften wie native Seide ist eine anspruchsvolle Aufgabe in der Materialwissenschaft“, so die einleitende Formulierung der Wissenschaftler zu ihrer Studie, die im vergangenen Januar im Magazin „Nature Communications“ veröffentlicht wurde. „In dieser Studie haben wir versucht, die natürliche Spinnenseidenproduktion mit Hilfe der Mikrofluidik zu imitieren, bei der kleine Mengen von Flüssigkeiten durch enge Kanäle fließen und dabei chemisch und mechanisch manipuliert werden“, so die japanischen Forscher. „Man könnte sogar sagen, dass die Seidendrüse der Spinne als eine Art natürliches mikrofluidisches Gerät funktioniert.“ Aus Sicht der japanischen Wissenschaftler birgt die Mikrofluidik das weitaus größte Potenzial für das Spinnen von Kunstseide. „Wir haben die natürliche Spinnenseidenproduktion mit Hilfe von Mikrofluidik nachgeahmt“, so Keiji Numata. Statt wie die Mehrzahl ihrer Kollegen die molekulare Struktur aus Spidroin-ähnlichen Bausteinen im Labor zu imitieren, gingen die Japaner einen gänzlich anderen Weg und bauten einfach die Seidendrüse der Spinnen nach.
Das Gerät sieht aus wie ein kleiner rechteckiger Kasten, in den winzige Kanäle eingearbeitet sind. Am Ende eines dieser Kanäle wurde ein Reservoir einer sogenannten Spidroin-Vorläuferlösung angebracht. Und anschließend wurde diese Lösung mit Hilfe von Unterdruck durch die diversen mikrofluidischen Kanäle zum anderen Ende der Box geleitet. „Während die Spidroine durch die mikrofluidischen Kanäle fließen“, so das japanische Team, „sind sie präzisen Veränderungen der chemischen und physikalischen Umgebung ausgesetzt, die durch das Design des mikrofluidischen Systems ermöglicht werden. Unter den richtigen Bedingungen bauten sich die Proteine selbst zu Seidenfasern mit ihrer charakteristischen komplexen Struktur auf.“ Um die idealen Voraussetzungen zu schaffen, hatten die Wissenschaftler unter anderem mit verschiedensten Fließgeschwindigkeiten und ph-Werten experimentiert. Auffällig war, dass die Seidenfaser-Produktion nicht funktionierte, wenn die Proteine mit reinem Krafteinsatz durch das Gerät transportiert wurden. „Nur wenn Unterdruck eingesetzt wurde, um das Spidroin so zu ziehen, dass es sich aufgelöst hatte, konnten kontinuierlich Seidenfasern mit der korrekten Ausrichtung der Beta-Faltblätter entstehen“, so die Forscher. „Es war überraschend, wie robust das mikrofluidische System war“, so die Wissenschaftler, „sobald die verschiedenen Bedingungen festgelegt und optimiert waren. Der Aufbau der Fasern erfolgte spontan, extrem schnell und in hohem Maße reproduzierbar. Wichtig war, dass die Fasern die ausgeprägte hierarchische Struktur aufwiesen, die in natürlichen Seidenfasern zu finden ist.“
Diverse Anwendungsfelder möglich
Bleibt allerdings erst einmal noch abzuwarten, ob der Einsatz dieses neuen Gerätes tatsächlich viele Möglichkeiten zur Produktion von robusten künstlichen Seidenfasern eröffnen wird. „Im Idealfall wollen wir eine Wirkung in der realen Welt erzielen“, so Keiji Numata. „Um dies zu erreichen, müssen wir unsere Faserproduktionsmethode skalieren und zu einem kontinuierlichen Prozess machen. Außerdem werden wir die Qualität unserer künstlichen Spinnenseide anhand verschiedener Metriken bewerten und auf dieser Grundlage weitere Verbesserungen vornehmen.“
Im günstigsten Fall könnte künstliche Spinnenseide auf den unterschiedlichsten Anwendungsfeldern große Vorteile bringen, wie etwa in der Textilherstellung, als Beschichtungsmaterial im Automobil- oder Flugzeugbau und natürlich auch in der Medizin (beispielsweise bei chirurgischen Nähten oder künstlichen Bändern). Auf jeden Fall scheint in dem Gerät der Japaner deutlich mehr Potenzial für die künstliche Spinnenseiden-Produktion zu stecken als bei einer im Herbst 2023 aus China gemeldeten Innovation: Im Reich der Mitte soll es gelungen sein, Seidenraupen mit Hilfe eines gentechnischen Eingriffs so weit umzupolen, dass sie sich auf die Produktion von Spinnenseide verlegt hatten. Viel interessanter noch ist, dass es US-Forschern des Rensselaer Polytechnic Institute gelungen sein soll, einen Bakterienstamm zu entwickeln, der Plastikabfälle in biologisch abbaubare Spinnenseide verwandeln kann. Genauer gesagt soll das Bakterium Pseudomonas aeruginosa Polyethylen-Kunststoffe, die in Produkten wie Plastiktüten, Wasserflaschen oder Lebensmittelverpackungen enthalten sind, auf natürliche Weise als Nahrungsquelle fermentierend aufnehmen und anschließend in ein genetisch kodiertes Seidenprotein verwandeln können.