Im Juni hat die Europäische Union den Naturschutz ein großes Stück vorangebracht: Sie beschloss die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur. Konservative, Liberale und Rechte stimmten dagegen. Nun bangen Naturschützer um die Fortschritte beim Erhalt unserer Lebensgrundlagen.
Deutschland macht beim Naturschutz keine gute Figur. Während Finnland und Schweden rund ein Zehntel ihrer Landesflächen unter strengen Schutz gestellt haben, sind es hierzulande nur 0,6 Prozent. Platz eins in der EU geht an Luxemburg. Das kleine, dicht besiedelte Land hat mehr als ein Drittel (36 Prozent) seines Staatsgebiets unter Naturschutz gestellt, wie die Tagesschau berichtet.
Pläne müssen vorgelegt werden
Eine auch wirtschaftlich lohnende Investition: 2020 belegte eine Studie des Weltwirtschaftsforums (WEF), was auch viele andere Wissenschaftler ausgerechnet haben: Mindestens die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung liefert uns die Natur: gesunde, fruchtbare Böden, sauberes Wasser, Luft und Insekten, die Pflanzen bestäuben. Ohne diese sogenannten Ökosystem-Leistungen würden die Menschen verhungern und verdursten. Der Naturschutzbund Nabu und die Wirtschaftsberatungsgesellschaft Boston Consulting Group (BCG) schätzen allein den wirtschaftlichen Schaden aus dem Verlust an Biodiversität auf rund 26 Billionen Euro jährlich. Gleichzeitig zahlen die EU und ihre Mitglieder weiterhin Milliarden für die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Allein die europäische Landwirtschaft erhält jedes Jahr rund 53 Milliarden Euro aus der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Davon fließen „zwischen 34 und 48 Milliarden in Praktiken und Geschäftsmodelle, die die natürlichen Ökosysteme schädigen“. Das berichtet das Magazin „Focus“. Hinzu kommen rund 35 Milliarden, die allein Deutschland für klima- und umweltschädliche Subventionen wie Pendlerpauschale, Förderung von Dienstwagen oder Steuerrabatte für Diesel und Kerosin ausgibt.
„Eine gesunde Umwelt, resiliente Ökosysteme sind und bleiben die Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolges und unseres Fortbestehens auf diesem Planeten“, sagte Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler im Juni. Deshalb stimmte sie gegen den Willen ihres Chefs, Bundeskanzler Karl Nehammer, für die EU-Verordnung zur Renaturierung geschädigter Ökosysteme.
Der Kanzler zeigte seine Ministerin daraufhin wegen angeblichem Amtsmissbrauch bei der Staatsanwaltschaft an und drohte mit einer Nichtigkeitsklage gegen die Europäische Naturschutz-Verordnung. Dabei hatte Nehammers ÖVP selbst schon gegen den Willen ihrer grünen Koalitionspartner mehrere Umweltauflagen für die Landwirtschaft aufgeweicht. Die Schwesterpartei der deutschen CDU/CSU nimmt die Koalitionsdisziplin also auch nicht so ernst.
Die Stimme der österreichischen Umweltministerin verhalf der EU-Renaturierungsverordnung zur Mehrheit. Sie gilt seit dem 18. August in allen Mitgliedsländern. Wie viele Naturschutzorganisationen nennt die Deutsche Stiftung Meeresschutz diese EU-Vorschriften einen „für den Erhalt der Artenvielfalt und für besseren Klimaschutz entscheidenden Wendepunkt in Europa“.
Die Verordnung verpflichtet die Mitgliedsstaaten, bis 2030 ein Fünftel ihrer Land- und Wasserflächen wieder in einen „natürlichen Zustand“ zu versetzen. Bis 2040 sollen 60 Prozent der Flächen „renaturiert“ werden und bis 2050 90 Prozent. Dazu müssen die EU-Länder bis 2026 detaillierte Renaturierungspläne vorlegen. Bereits 2022 hatten die Vereinten Nationen in ihrer Biodiversitätskonvention Ähnliches beschlossen. Die Vertragsstaaten sollen bis 2030 30 Prozent ihrer Land- und Wasserflächen unter Schutz stellen. Der entscheidende Unterschied: Die EU-Verordnung ist für die Mitgliedsländer bindend. Wer sich nicht daran hält, kann vom Europäischen Gerichtshof zu teuren Strafen verdonnert werden. Abkommen der Vereinten Nationen kann dagegen niemand durchsetzen.
Und es eilt. Vier Fünftel der natürlichen Lebensräume Europas sind in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand. Die vielen für die Landwirtschaft trockengelegten Moore sind wahre Treibhausgasschleudern, die die Erderwärmung befeuern. Während nasse, gesunde Moore pro Hektar sehr viel mehr Kohlendioxid binden als Wälder, geben die trockengelegten CO₂ ab. Schon deshalb ist die Wiedervernässung von Mooren ein wichtiger Posten auf dem Aufgabenzettel der EU-Länder. Außerdem sollen die Staaten Wälder besser schützen und dafür sorgen, dass die Landwirte weniger giftige Spritzmittel einsetzen, damit mehr Insekten überleben.
Trotz all dieser Fakten machen Konservative, Rechte und Liberale Stimmung gegen die Renaturierungsverordnung. Die deutschen CDU-, CSU- und FDP-Abgeordneten haben wie die meisten ihrer Parteifreunde aus den anderen EU-Ländern gegen die Verordnung gestimmt. Sie klagen über zu viel Bürokratie, behaupten wahrheitswidrig, dass die Bauern nach der neuen Verordnung Schmetterlinge auf ihren Feldern zählen müssten, ein Zehntel ihres Landes nicht mehr bewirtschaften dürften oder dass für die Wiedervernässung von Mooren ganze Dörfer abgerissen würden.
Mit 130 Änderungsanträgen setzten sie durch, dass die Verordnung an vielen Stellen abgeschwächt wurde. Nun will die EVP, der Zusammenschluss der konservativen Parteien, sicherstellen, dass „zu strenge Umwelt-Auflagen nicht mehr in die Gesetzentwürfe gelangen“.
Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Dänemark. Dort einigten sich Landwirtschafts- und Industrieverbände mit der Regierung auf einen rund sechs Milliarden Euro schweren staatlichen Grünland-Fonds. Aus diesem erhalten die Bauern Entschädigungen, wenn sie Flächen nicht mehr bewirtschaften und dem Naturschutz überlassen. So sollen auf 250.000 Hektar neue Wälder gepflanzt werden. Auf weiteren 140.000 Hektar werden Moore und andere Feuchtgebiete renaturiert. Teil des dänischen Pakts für den Naturschutz ist die im Sommer beschlossene CO₂-Abgabe auf tierische Produkte wie Fleisch und Milch. Die Bauernvertreter haben zugestimmt, nachdem ihnen die Regierung im Gegenzug Steuerermäßigungen versprochen hat.
In Deutschland wendet sich der Bauernverband gegen die EU-Naturschutzverordnung und gegen eine CO₂-Abgabe auf Fleisch. Beides würde die Produkte hiesiger Bauern verteuern und so die Landwirte im internationalen Wettbewerb benachteiligen, klagt Verbands-Generalsekretär Bernhard Krüsken. Die Landwirtschaft verliere in Deutschland außerdem jetzt schon jedes Jahr 50 Hektar Land. Grund: die Bodenversiegelung etwa für neue Wohnhäuser, Straßen, Gewerbe- und andere Bauten.
Wer soll die „Umweltkosten“ tragen?
Schwierig sei es auch, den CO₂-Fußabdruck landwirtschaftlicher Produkte zu berechnen. So fragt Krüsken, ob dabei die Vorprodukte wie Tierfutter von abgebrannten Regenwaldflächen in Südamerika, der mit sehr viel Energieaufwand hergestellte Dünger für den Futtermittelanbau in Europa und viele weitere Faktoren mit eingerechnet würden. Unklar sei auch, was genau „Renaturierung“ heiße. Naturschutz solle die Politik mit den Landwirten zusammen und nicht über ihre Köpfe hinweg beschließen. Als positive Beispiele nennt Krüsken den „niedersächsischen Weg“ der Landesregierung in Hannover und das „Biodiversitäts-Stärkungsgesetz“ in Baden-Württemberg.
Tatsächlich lässt die EU-Renaturierungsverordnung einige Fragen unbeantwortet. In Deutschland komme es jetzt entscheidend darauf an, wie Bund und Länder die Vorgaben umsetzen, heißt es nicht nur bei den Naturschutzverbänden.
Die Biologin Frauke Fischer forscht an der Uni Würzburg zu Artenvielfalt und Biodiversität. Wie viele Fachleute lobt sie die Renaturierungsverordnung der EU als wichtigen Fortschritt. Dennoch fehlen auch ihr einige Punkte: So sei nicht entschieden, welche Flächen vorrangig wie renaturiert werden und wer dafür bezahlen müsse. Bisher wälzten die Verursacher von Schäden in der Umwelt die Kosten dafür auf die Allgemeinheit ab. Es fehlt also auch hier die „Internalisierung von Umweltkosten“. Ein Beispiel: Dünger und Spritzmittel sickern von den Äckern ins Grundwasser. Es wird daher immer aufwendiger und teurer, sauberes Trinkwasser zu gewinnen. Die Kosten dafür zahlen die Verbraucher über den Wasserpreis, nicht jedoch die Verursacher, also Bauern oder Hersteller der Chemikalien. Statt Milliarden an Subventionen in die konventionelle Landwirtschaft zu pumpen sei es doch sinnvoller, die Bauern für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen wie fruchtbaren Böden, also den Naturschutz zu bezahlen. Um Lösungen voranzubringen, hat Frauke Fischer vor 20 Jahren die erste auf Biodiversität spezialisierte Unternehmensberatung gegründet, die Agentur „auf!“. Ihr erster Kunde war die Brauerei Krombacher. Diese habe früh erkannt, dass sich Investitionen in den Naturschutz lohnen. Drei Millionen Euro habe das Unternehmen damals in ein Regenwaldschutz-Projekt gesteckt. Bis heute werben die Brauer erfolgreich damit. Inzwischen habe sich die Einstellung zum Schutz von Biodiversität und Natur in vielen Unternehmen verändert. Immer mehr Manager hätten erkannt, dass die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ihre Lieferketten und damit ihre Unternehmen gefährdet.
Investitionen in Naturschutz lohnen
Um zu zeigen, dass man auch mit einem sozial- und naturschutzgerechten Betrieb Geld verdienen kann, hat Frauke Fischer mit Gleichgesinnten den Schokoladenhersteller Perú Puro gegründet. Das Unternehmen kauft nach eigenen Angaben Kakao direkt von Kleinbauern in Peru, die die Früchte in artenreichen Agroforstsystemen anbauen. Das sind Anpflanzungen in bestehenden gesunden Wäldern, die die fruchtbaren Böden erhalten. Die Förderung der biologischen Vielfalt und die faire Bezahlung der Menschen sei Teil des Geschäftsmodells, das sich auszahlt. So seien die weltweiten Kakaopreise in den letzten Jahren drastisch gestiegen, weil zahlreiche Plantagen in Westafrika auch wegen der nicht nachhaltigen Bewirtschaftung viel weniger Ertrag abgeworfen hätten. Die Böden dort seien ausgelaugt, Biodiversität und Wasserkreisläufe zerstört. Nachhaltiger und fairer Kakaoanbau hat allerdings seinen Preis. Weil das Unternehmen den Bauern auch mehr für den Kakao bezahlt, kostet eine Tafel Bio-Schokolade des Unternehmens acht Euro. „Kein Problem“, sagt Frauke Fischer. Dank zahlreicher Preise könne man die Schokolade an Gourmets verkaufen, die solche Preise für ein Spitzenprodukt bezahlen. Das Beispiel zeigt, dass Lebensmittel und andere Produkte zunächst teurer werden, wenn man sie nachhaltig herstellt. Auf Dauer allerdings gibt es keine Alternative zum Schutz der Biodiversität und damit unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Fischer ärgert sich, wenn etwa Politiker oder Unternehmer naturwissenschaftliche Erkenntnisse als „grüne Ideologie“ beschimpfen. Sie sieht in der „zunehmenden Wissenschaftsfeindlichkeit“ eine Gefahr.
Die Natur sei unser „wichtigster Dienstleister“. Man könne nicht Insekten vernichten und dann erwarten, dass sie weiterhin die vom Menschen angebauten Pflanzen bestäuben. Allein die wirtschaftlichen Schäden durch die Zerstörung von Ökosystemen und durch den Verlust der biologischen Vielfalt gehen nach Angaben des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) in die Billionen.
Den „Conservation Finance Gap“ bezifferte UNEP 2023 auf gut 400 Milliarden Euro. Diese Summe müsste die Menschheit aufbringen, um die Biodiversität zu erhalten. Was nach sehr viel Geld klingt, macht nur etwa ein Hundertsechsundfünfzigstel der jährlichen Weltwirtschaftsleistung aus. Also „Peanuts“? Ja, sagt Frauke Fischer.