Eine neue Führungsspitze für die EU, neue Fraktionen im Europaparlament, Neuwahlen in Frankreich. Europa stellt sich neu auf. Die Wahlen in Frankreich sind Folgen aus der Europawahl. Und die Neuwahlen im Vereinigten Königreich auch ein Ergebnis des Brexit.
Das Trio war sichtlich sauer. Victor Orbán (Ungarn), Georgia Meloni (Italien) und Petr Fiala (Tschechien) wollte es so gar nicht behagen, dass sich ein anderes Trio, nämlich EVP, Sozialdemokraten und Liberale auf ein künftiges Spitzentrio für die EU verständigt hatten: Eine zweite Amtszeit für Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin, dazu Kaja Kallas als Hohe Vertreterin (EU-Außenministerin) und António Costas als Präsident des Europäischen Rates. „Das werden wir uns nicht gefallen lassen“, tönte Victor Orbán.
Nachdem sich die Mitte-Parteien über ihr Personalpaket für die Spitzenpositionen verständigt hatten, wurde das auch auf dem Gipfel der Regierungschefs beschlossen. Mit Zustimmung von 25 der 27 Mitgliedsstaaten, eine deutliche „qualifizierte Mehrheit“ (mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren).
Der Gipfel hat gezeigt, dass Europa auch anders kann, als es gemeinhin der Vorstellung entspricht, wonach alles langsam, zäh und in überlangen Nachtsitzungen erarbeitet werden muss. Der für zwei Tage geplante Gipfel war schon nach einem Tag mit allen Beschlüssen durch.
Die Frage war, ob sich Georgia Meloni zu einer Zustimmung zum Personalpaket bewegen lassen würde. Am Ende entschloss sich die italienische Regierungschefin zu einer symbolischen Abstimmung: Enthaltung bei von der Leyen – Ablehnung der anderen Vorschläge.
Victor Orbán, zu dessen Markenzeichen Blockadehaltungen gehören, hat zum 1. Juli die Ratspräsidentschaft in der EU übernommen. Turnusgemäß ist Ungarn für die zweite Hälfte 2024 dran.
Das hat schon lange im Vorfeld zu Besorgnissen geführt. Orbán als Ratspräsident, ausgerechnet noch in einer Zeit, in der sich die EU nach der Wahl neu sortieren muss. „Make Europe Great Again“, hat Orbán als Slogan über dieses halbe Jahr gestellt. Eine Anspielung, die vilefach Kopfschütteln ausgelöst hat.
Mit Ungarn hat nun ein Mitgliedsland die Ratspräsidentschaft, das gerade vom Europäischen Gerichtshof zu einer Strafe von 200 Millionen Euro verdonnert wurde, weil es sich weigert, europäisches Migrationsrecht umzusetzen.
Ungarn ist aber auch ein Land, in dem bei der Europawahl Orbán erstmals einen massiven Dämpfer erhalten hat. Seine Partei bekam mit knapp 45 Prozent das schlechteste Ergebnis bei einer Europawahl, dafür bekam Orbáns neuer Widersacher Péter Magyar mit seiner neuen Partei „Respekt und Freiheit“ (kurz: Tisza) aus dem Stand knapp 30 Prozent. Das kratzt an der Macht Orbáns.
Orbán könnte geneigt sein, das europäische Heimspiel zur eigenen Inszenierung zu nutzen. Die Vorstellung des offiziellen Mottos hat davon einen Eindruck gegeben. Zugleich will sich Ungarn bis zum Jahresende als „ehrlicher Makler“ erweisen, wie es Ungarns Europaminister versprach – also ganz auf der Linie, was von einer Präsidentschaft erwartet wird.
Im Kern erwarten das auch EU-Kenner und -praktiker. Die verweisen darauf, dass es bei dem, was für die nächsten Monate absehbar ist, nicht allzu viel gibt, was zur besonderen Profilierung taugt.
Schnelle Entscheidung über EU-Spitzentrio
Gesetzgebungen in umstrittenen Bereichen wie Migration und Klima stehen erstmal nicht an. Im Bereich Migration war ja noch kurz vor den Wahlen eine Einigung gefunden worden. Auch für andere Punkte wie etwa den Beitritt der Ukraine (und Moldau) sind die vorerst wichtigsten Entscheidungen gefallen.
Das Europäische Parlament muss sich auch erst einmal selbst konstituieren, um die Arbeit wieder aufnehmen zu können.
Dabei zeigt sich vor allem, wie heterogen das ist, was sich im rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteienspektrum entwickelt. Während die einen versuchen, sich etwas gemäßigt in ihrer europapolitischen Haltung zu präsentieren, natürlich auch mit Blick auf eine bürgerliche Wählerschaft, versuchen sich andere, mit Radikalismen zu überbieten.
Schon im alten Parlament waren zwei Fraktionen am politisch rechten Rand zu Gange. In der ID-Fraktion (Identität und Demokratie) hatte es schon lange vor den Wahlen geknirscht, bis es schließlich zum Bruch zwischen den Hauptakteuren, dem französischen RN und der deutschen AfD kam. Le Pen wollte sich insbesondere nicht mehr mit den radikalen Äußerungen der AfD-Spitzenkandidaten und ihren Skandalen belasten, hatte sie selbst doch der ehemaligen Front National (FN) mit der Umwandlung zum RN von allzu radikalen Positionen abgebracht, um ihre Chance auf das französische Präsidentenamt zu erhöhen.
Wie sich das rechte Lager im neuen Europaparlament organisiert, wer mit wem eine Fraktion bilden kann (was entscheidend ist für politischen Einfluss und vor allem die finanzielle Mittelausstattung), stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.
Zugleich läuft die Bildung der neuen Kommission. Jedes Mitgliedsland kann einen Kommissar oder eine Kommissarin benennen, die dann aber vom Parlament bestätigt werden müssen. Und das ist keineswegs ein Selbstläufer, wie Ablehnungen in der Vergangenheit gezeigt haben.
Dass ausgerechnet in dieser Phase in Frankreich vorgezogene Neuwahlen zur Nationalversammlung stattfinden, ist sicherlich nicht besonders hilfreich. Für Präsident Macron schien es wohl die einzige Möglichkeit zu einem Befreiungsschlag – mit außerordentlich hohem Risiko. Was die wirklichen Gründe von Macrons einsamer Entscheidung waren, darüber wird nach wie vor spekuliert. Und das gilt natürlich erst recht für die Folgen möglicher Wahlausgänge. Sollte der RN am Ende eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung bekommen, käme es zu einer „Cohabitation“. Die Macht des Präsidenten wäre sehr eingeschränkt. Was das für die Europapolitik Frankreichs bedeuten würde, kann derzeit nur spekuliert werden. Eine besondere Situation wäre, wenn der RN zwar die Wahl gewinnen, aber keine absolute Mehrheit erreichen würde. Wie sich dann die Politik Frankreichs sortieren würde, ist offen.
Wahlen gibt es auch in Großbritannien. Ergebnisse lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Das Vereinigte Königreich hat sich bekanntlich mit dem Brexit aus der EU verabschiedet. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass alle damaligen Versprechungen, wonach es nach dem Brexit in vielen Bereichen besser gehen würde, widerlegt sind. In vielen Fällen ist das genaue Gegenteil eingetreten. Die völlige Unzufriedenheit hat sich schon lange aufgebaut. Als sich Premierminister Rishi Sunak für einen frühen Wahltermin entschied, war eigentlich das Ende der Torys in der Regierung klar. Alle Umfragen zeigten eine Wechselstimmung. Nicht unbedingt, weil die Menschen den Labour-Herausforderer Keir Starmer so besonders toll finden, sondern weil sie von der Torys schlicht genug haben. Wahlkreiskandidaten der Torys führen ihren Wahlkampf vielfach unter völligem Verzicht auf die Erwähnung der Partei. Beim TV-Duell zwischen Sunak und Starmer tauchte die Zuschauerfrage auf: „Sind Sie beide wirklich das Beste, was wir für unser großartiges Land haben?“
Angesichts dieser Stimmungslage ist auch wieder ein alter Bekannter aus den Brexit-Zeiten aufgetaucht: Nigel Farage. Der ehemalige UKIP-Chef und vehementer Brexit-Vorkämpfer hatte voriges Jahr noch seinen Einzug ins britische Dschungelcamp angekündigt, jetzt ist er wieder im Wahlkampf um den Einzug ins Unterhaus. Letzte Umfragen hatten seinen Rechtspopulisten etwa 15 Prozent vorausgesagt. Dass der Wahlkampf von Wettskandalen begleitet wurde, passt irgendwie ins Bild, das vielfach von den „verrückten Briten“ gezeichnet wird.