Zur Selbstverteidigung darf die Ukraine auch militärische Ziele auf russischem Boden angreifen. Was völkerrechtlich eigentlich klar ist, ist jetzt auch mit westlichen Waffen möglich – in definiertem Rahmen.
Am Ende war die neue Linie der Bundesregierung zum Waffeneinsatz nicht mehr überraschend, eigentlich sogar folgerichtig. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte immer wieder betont, derartige Entscheidungen nur in Abstimmung mit den Verbündeten treffen zu wollen.
Nachdem US-Präsident Biden der Ukraine zugestanden hatte, mit gelieferten Waffen auch militärische Ziele auf dem Boden Russlands angreifen zu dürfen, war wenig verwunderlich, dass die Bundesregierung kurz danach dasselbe für von Deutschland gelieferte Waffen beschloss.
Demnach darf die Ukraine in einem klar umrissenen Umfang Ziele auf russischem Territorium angreifen, von denen aus vor allem die Dauerangriffe auf die Großstadt Charkiw gestartet werden.
Dafür hatte in den Tagen zuvor Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg intensiv geworben. Und auch der französische Präsident Emmanuel Macron hatte bei seinem Staatsbesuch in Deutschland seine Haltung wiederholt, wonach die Ukraine die Möglichkeit haben müsse, Stützpunkte in Russland, die für Angriffe genutzt würden, zu „neutralisieren“. Dass das völkerrechtlich zulässig ist, um sich gegen den Dauerbeschuss zur Wehr zur setzen, war schon zuvor eigentlich unumstritten, zumal die russischen Angriffe sich auch gezielt auf zivile Einrichtungen und damit gegen die Zivilbevölkerung richteten.
Im Kielwasser der Vereinigten Staaten
Charkiw liegt nur rund 30 Kilometer von der Grenze, die möglichen Ziele, gegen die die Verteidiger nun vorgehen können, sind in Reichweite bisher schon gelieferter westlicher Waffen.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bezeichnete diese neue Linie als „strategische Anpassung an sich verändernde Lagebilder“. Dass damit auch die Debatte um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern neu entbrennen würde, war klar, weshalb Pistorius gleich klarstellte, dass sich dabei an der Haltung der Bundesregierung (nämlich keine Lieferung) nichts geändert habe.
Bei Taurus handele es sich um eine Langstreckenwaffe. Aktuell gehe es aber um den Beschuss von Zielen im grenznahen Bereich in der Region Charkiw.
Gleichzeitig gehen die innenpolitischen Debatten um die Abwehrbereitschaft im eignen Land weiter. Wobei sich der Eindruck verdichtet, dass es da um die Einigkeit zwischen Bundeskanzler und seinem Verteidigungsminister nicht immer zum Besten steht. So fordert Boris Pistorius für das kommende Jahr im Bundeshaushalt 6,5 Milliarden Euro mehr für Heer, Luftwaffe und Marine. Doch Anfang Juni zeichnet sich ab, dass er die wohl nicht bekommen wird. Zum einen spielt Finanzminister Christian Lindner (FDP) nicht mit. Der will die Schuldenbremse partout einhalten. Und zum anderen scheint sich der Bundeskanzler beim Finanzminister nicht sonderlich für zusätzliche Milliarden für den Verteidigungsetat stark zu machen. Schließlich ist der von Kürzungsauflagen, die alle anderen Ressorts betrafen, schon verschont geblieben.
Trotzdem stellt sich natürlich bei dem inzwischen allseits anerkannten enormen Nachholbedarf – nicht nur bei der Bundeswehr direkt – die Frage, wie das Land „kriegstüchtig“ werden soll. Allein mit dem Einhundert-Milliarden-Sondervermögen ist es nicht getan.