Bis zu 800 Milliarden Euro für Verteidigung und Aufrüstung will die EU bereitstellen. Dabei geht es um mehr als gigantische Summen: Europa kämpft in neuen Allianzen um geopolitischen Einfluss.

Die Dimensionen sind enorm, die Herausforderungen sind es schließlich auch. „Wir leben in gefährlichen Zeiten“, hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den „Plan zur Wiederaufrüstung Europas“ begründet. Es wirkt wie eine schnelle Reaktion auf die markige Politik der Trump-Regierung. Ist es auch. Aber es ist auch ein weiterer konsequenter Schritt einer längeren Entwicklung, die die EU seit einigen Jahren eingeschlagen hat. Seit einigen Wochen mit einer völlig neuen Dynamik.
Großbritannien, bekanntlich seit dem Brexit nicht mehr EU-Mitglied, ist mit Frankreichs Präsident an Bord für eine „Koalition der Willigen“ für eine eigene europäische Ukraine-Friedensinitiative. Deutschland hat sich mit seinen Plänen zu einer massiven Aufrüstung wieder als führende Kraft zurückgemeldet, und das in einer Übergangsphase nach den vorgezogenen Neuwahlen. „Hier schält sich womöglich die Allianz heraus, die Europas Sicherheit spät, aber nicht zu spät in ihre eigenen Hände nimmt“, kommentierte die „Wirtschaftswoche“. Nach dem Sondergipfel, der die milliardenschweren Beschlüsse zur Aufrüstung getroffen hat, merkte die eher konservative belgische Zeitung „La Libre Belgique“ an: „Zum ersten Mal hört die EU auf, eine durch ihre militärische Ohnmacht gelähmte Wirtschaftsmacht zu sein, und tritt als glaubwürdiger strategischer Akteur auf.“
Weg zur europäischen Verteidigungspolitik
Eigentlich eine zwangsläufige Entwicklung, seitdem immer deutlicher wurde, dass die USA den Schwerpunkt ihrer außen- und sicherheitspolitischen Aufmerksamkeit vom Atlantik zum Pazifik verlagert. Das war schon zu Zeiten von US-Präsident Obama vor gut zehn Jahren immer klarer geworden, auch wenn es zunächst noch ein schleichender Prozess war. Mit der ersten Amtszeit von Donald Trump musste dann für die Europäer endgültig klar sein, dass dieser nicht nur einen geopolitischen Strategiewechsel der USA darstellt, sondern dass die transatlantische Verbindung keine unverbrüchliche Gewissheit mehr ist. Und das in Zeiten zunehmender Bedrohung durch Russland (nach der Annexion der Krim 2014).
„Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen können, die sind ein Stück weit vorbei.“ Ein eigentlich legendärer Satz der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (2017). Der französische Präsident Emmanuel Macron beließ es nicht bei einer Feststellung, sondern forderte „une Europe, qui protège“ („ein Europa, das schützt“), und der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wurde im selben Jahr noch konkreter und forderte eine „funktionierende Europäische Verteidigungsunion“ bis 2025. Davon kann heute zwar nicht wirklich die Rede sein, aber immerhin sind eine ganze Reihe von Schritten in diese Richtung bereits erfolgt.
Noch 2017 wurde Pesco von den meisten EU-Mitgliedsländern unterzeichnet. Pesco steht für Permanent Structured Cooperation (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit). Ziele waren gemeinsame Rüstungsprojekte und vor allem eine Synchronisierung zwischen den europäischen Armeen. Das wurde oft als eine Art „militärisches Schengen“ angesehen und als Vorstufe für eine europäische Armee gewertet. Sicherheits- und Außenpolitik sind eigentlich nach wie vor Sache der Mitgliedsstaaten. Von Beginn an gab es immer wieder Anläufe, von einer „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ zu einer echten europäischen Politik zu kommen.
2009 wurde erstmals die Funktion eines „Hohen Vertreters“ (für Außen- und Sicherheitspolitik) besetzt, was schnell umgangssprachlich zum „EU-Außenminister“ oder „EU-Beauftragten“ wurde. Diese Funktion wurde nach und nach immer mehr aufgewertet. Seit Ende vergangenen Jahres ist die streitbare Kaja Kallas (Estland) das Gesicht europäischer Außenpolitik. Und seit November 2024 gibt es auch erstmals in der EU-Kommission einen eigenen Verteidigungskommissar: Andrius Kubilius.
Koalition der Willigen als Schrittmacher
Sein Start war zunächst ziemlich bescheiden: Kein Geld, keine eigene Armee, keine eigenen Waffen, und wie er selbst bei seiner Vorstellung im Europäischen Parlament leicht ironisch bemerkte: ein „König ohne Land“. Dafür aber mit klaren Vorstellungen – 500 Milliarden Euro für Raketen, Munition und Luftabwehr und 200 Milliarden für bessere Straßen und Brücken, damit diese auch einen Panzer aushalten; das waren seine Forderungen. Und ziemlich genau in dieser Größenordnung bewegen sich nun die Beschlüsse, mit 800 Milliarden sogar etwas mehr.
Weil nun aber der Verteidigungskommissar selbst dadurch immer noch kein Geld hat und Verteidigung immer noch wesentlich Sache der Mitgliedsländer ist, sieht die Vereinbarung so aus, dass 150 Milliarden als Kredit von der EU kommen sollen, ansonsten sollen die europäischen Schuldenbremsenregelungen für Verteidigungsausgaben aufgehoben werden, womit Mitglieder mehr Spielraum für eigene Ausgaben haben. Ob sie den allerdings in diesem Umfang nutzen, darüber entscheiden sie selbst. Und weil die Bedrohungslage nun mal im Baltikum oder in Polen anders beurteilt wird als etwa in Portugal und Spanien, wird man sehen müssen, was realisiert wird.

Zugleich spielen auch Nicht-EU-Mitglieder für europäische Sicherheitsfragen bedeutende Rollen: Neben Großbritannien auch die Nato-Mitglieder Norwegen und Türkei. Damit zeichnen sich neue Konstellationen ab, wo alte Allianzen zerbröseln.
Und das gilt dann nicht nur für militärische, sondern auch für politische Zusammenarbeiten. Wenn die Regierung Trump weiter auf Konfrontation mit allen alten Verbündeten aus ist, könnten die sich teilweise untereinander neu sortieren. Und auch innerhalb der EU selbst deutet sich an, dass man nicht mehr gewillt ist, sich von notorischen Quertreibern aufhalten zu lassen.
Als beim Sondergipfel auch weitere Unterstützung für die Ukraine auf der Tagesordnung stand, hatte Victor Orbán einmal mehr mit einem Veto gedroht. Nur diesmal ließen ihn die anderen schlicht ins Leere laufen. Die Resolution wurde mit den übrigen 26 Stimmen angenommen. Damit ist das Einstimmigkeitsprinzip, das es immer noch in etlichen europäischen Fragen gibt, nicht aufgehoben. E wird schon lange gefordert, es durch eine qualifizierte Mehrheit zu ersetzen. Nur, zur Änderung wäre halt Einstimmigkeit erforderlich. Folglich gibt es längst schon, und zunehmend, Projekte mit unterschiedlichen Beteiligungen.
Für die Frage der Sicherheitspolitik steht diese schon seit Langem geführte Debatte jetzt aber unmittelbar unter dem Druck konkreter Entscheidungen. Dabei geht es auch um Modelle, die einzelnen Mitgliedsstaaten ermöglichen, einen Schutzschirm aufzubauen, zunächst komplementär zu den bisherigen Strukturen der Nato, deren Bestand durch das US-amerikanische Vorgehen zunehmend fraglicher wird. Nach Meinung renommierter Experten kann Europa auf diesem Weg verhindern, „Spielball geopolitischer Realitäten“ (wie es Thomas Bippes, Autor von „The European“, nennt) zu werden, und sich selbst als geopolitischen Akteur positionieren.