Sie konnte das erreichen, wovon andere Jung-Designer nur träumen: Vor zwei Jahren erhielt Bianca Saunders den Andam-Award, einen der weltweit bedeutendsten Preise für herausragende Mode-Talente. Nun ist die Britin dabei, traditionelle Männergarderobe neu auszurichten.
Es ist schon ziemlich verblüffend, dass viele der aufstrebenden Talente des aktuellen Fashion-Business aus Großbritannien stammen. Die Insel hat derzeit den Ruf, die innovativsten und kreativsten Newcomer hervorzubringen. Allerdings ist das alles andere als ein Zufall, weil es im Königreich nicht nur weltweit renommierte Mode-Ausbildungsinstitutionen gibt, sondern weil die Förderung junger Designer geradezu beispielhaft ist. Dabei führt kein Weg an dem bereits im Jahr 1983 gegründeten British Fashion Council (BFC) vorbei, einer gemeinnützigen Organisation mit Sitz in London, deren ureigener Zweck die Unterstützung britischer Mode-Designs ist. Einen besonderen Verdienst hat sich das BFC dadurch erworben, dass es ihm gelungen ist, die 1984 erstmals von ihm organisierte London Fashion Week zu einer der vier wichtigsten Modemessen der Welt zu machen.
Grenzwertig weibliches Gefühl
Und wenn das BFC alljährlich zur Gala-Verleihung seiner Fashion-Awards einlädt, findet sich jedes Mal das gesamte Who-is-Who der Modewelt ein. Wie zuletzt am 5. Dezember 2022 in der Londoner Royal Albert Hall, wo vor 1.000 illustren Gästen die Preisträger in den verschiedensten Kategorien bekanntgegeben wurden. Den Titel des „Designer of the Year“ konnte dabei Pierpaolo Piccioli, der Kreativ-Chef des Hauses Valentino, abräumen und dabei andere nominierte Größen wie Miuccia Prada, Jonathan Anderson oder Matthieu Blazy hinter sich lassen. Zum „Model of the Year“ wurde Bella Hadid gekürt, was wohl kaum jemanden überrascht haben dürfte. Wohl aber, dass unter den Kandidaten für die Preiskategorie „Independent British Brand“ neben Erdem, JW Anderson, Molly Goddard und Wales Bonner auch der Name Bianca Saunders aufgetaucht war. Die Designerin, inzwischen Endzwanzigerin, mit jamaikanischen Wurzeln hatte ihr Label 2017 im Alter von 24 Jahren gegründet und ein Jahr später ihr Debüt im Rahmen einer Gemeinschaftsausstellung bei der London Fashion Week Men gegeben. Und sich danach trotz der coronabedingten Einschränkungen mit nur visuellen Präsentationsmöglichkeiten ihrer Kollektionen zu einer der aufregendsten und spannendsten Newcomerinnen entwickelt – ohne Hilfe der sozialen Medien und ohne Protektion durch Influencer oder Promis.
Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Zumal die in Catford, einem Stadtteil im Südosten Londons, geborene und im benachbarten Bezirk Brockley aufgewachsene Bianca Saunders aus einfachen familiären Verhältnissen stammt. Die Mutter arbeitet als Friseurin, der Vater als Stuckateur. Als Teenager hatte sie den Entschluss gefasst, beruflich etwas Künstlerisches machen zu wollen. Doch einer ihrer Onkel, ein Grafikdesigner, hatte ihr dringend davon abgeraten, weil seiner Meinung nach selbst große Künstler meist erst nach ihrem Tod so richtig zu Geld kommen würden. Daher hatte sie sich der Mode zugewandt und dafür zunächst einen Bachelor-Abschluss an der bekannten Londoner Kingston University gemacht, wo sie sich mit allen handwerklichen Grundlagen einer künftigen Designerin vertraut machen konnte, vom Nähen bis hin zum Anfertigen von Schnittmustern. Kurzzeitig hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ins Kreativ- Team der Modemarke COS zu wechseln. Sie hatte sich dann jedoch für eine Perfektionierung ihrer Ausbildung am renommierten Londoner Royal College of Art mit Master-Abschluss entschieden.
Ihr Studium hat sie dabei ganz bewusst auf die Menswear ausgerichtet. „Herrenmode fühlte sich für mich leichter an“, so Saunders, „weil ich darin größere Möglichkeiten zur Entwicklung meiner eigenen Ästhetik gesehen hatte und ich gewillt war, sie über die reine Arbeitsbekleidung hinaus zu erweitern. Ich denke, dass Menswear im Vergleich zur Womenswear, in der es deutlich mehr Freiheiten gibt, viel mehr Barrieren überwinden muss. Ich hoffe, dass sich meine männlichen Kunden befreit fühlen, wenn sie etwas tragen, das für traditionelle Herrenmode ungewöhnlich ist.“ Wallende Seidenhemden, durchsichtig-figurbetonte T-Shirts, subtile Hautblitzer, gerüscht-verkürzte Details an Oberteilen, geraffte Shorts, diverse Denim-Pieces und seitlich geteilte Anzugshosen sollten denn auch schnell zu den Markenkennzeichen von Bianca Saunders werden, die bei ihren Kreationen immer wieder auf die Kombination von Anleihen aus ihrer britischen Heimat und ihres jamaikanischen Erbes hinweisen.
Es fehlte etwas in der Herrenmode
Sie hat ihrer Menswear ein „grenzwertig weibliches Gefühl“ bescheinigt und ihren Wunsch ausgesprochen, dass Männer sich in ihren Klamotten „sexy“ fühlen sollten, „weil das heutzutage in der Herrenmode etwas fehlt“. Dabei zieht Saunders die modischen Geschlechtergrenzen ähnlich wie ihre Kollegen Harris Reed oder JW Anderson nicht besonders streng, sondern hat überhaupt nichts gegen einen Unisex-Ansatz. Zumal sie selbst gern in ihre Menswear-Klamotten schlüpft. „Ich bin ziemlich groß, und meine Arme sind ziemlich lang. Also probiere ich die Jacken und manchmal auch die Hosen an, weil ich nachvollziehen möchte, wie sich ein Kunde darin fühlen wird. Meine Männerkleidung muss nicht unbedingt als feminin definiert werden, den richtigen Begriff für meine Kreationen habe ich noch nicht gefunden. Auf jeden Fall möchte ich Männer dazu animieren, sich mit ihren Klamotten in unbekannte Regionen zu wagen und vielleicht ein bisschen was Außergewöhnliches zu tragen.“
Alles schön und gut. Bleibt nur die Frage, wie es Bianca Saunders innerhalb kürzester Zeit gelungen ist, sich aus dem Heer ehrgeiziger Absolventen der bekannten britischen Mode-Institute abzuheben und als künftiger Star der internationalen Männermode gehandelt zu werden. Das „GQ“-Männermagazin hat sie bereits zum „schlagenden Herzen der britischen Herrenmode“ geadelt. Die Antwort ist ganz einfach: Dabei war wieder das British Fashion Council ins Spiel gekommen, das Nachwuchstalenten mit einer Vielzahl von Förderprogrammen zu einem schnellen Durchbruch verhelfen möchte. Auch Bianca Saunders hat davon profitiert: Sie wurde finanziell unterstützt, bekam kostenlose Ausstellungsmöglichkeiten auf der London Fashion Week, erhielt ein individuelles Mentoring und wurde in das prestigeträchtige NewGen-Sponsoring-Programm der BFC aufgenommen.
Doch ihren bislang größten Coup konnte Bianca Saunders abseits der britischen Insel in Frankreich landen, wo sie 2021 zur Gewinnerin des mit 300.000 Euro dotierten Designer-Nachwuchspreises „Andam Fashion Award“ gekürt wurde und dabei starke Mit-Konkurrenten wie Rok Hwang, Wales Bonner oder Ludovic de Saint Sernin ausstechen konnte. Der 1989 von der Mode-Journalistin Nathalie Dufour ins Leben gerufene Andam-Wettbewerb hat sich in Frankreich neben dem LVMH-Preis, bei dem Saunders 2021 ebenfalls das Finale erreicht hatte, aber Nensi Dojaka den Sieg überlassen musste, längst zum wichtigsten Wettbewerb zur Förderung aufstrebender Designer-Newcomer entwickelt und kann auf eine beeindruckende Liste prominenter Siegerinnen und Sieger verweisen. Beispielsweise Martin Margiela, Jeremy Scott oder Iris Van Herpen. Im Andam-Vorstand ist alles was Rang und Namen hat vertreten, darunter die Geschäftsführer von Hermès, vom Kering-Konzern oder vom LVMH-Luxus-Konsortium.
Es wurde gemunkelt, dass für den Sieg von Bianca Saunders keine Geringere als Phoebe Philo den Ausschlag gegeben hatte, weil die ungekrönte Königin der eleganten Damenmode seit ihrem Ausscheiden von Céline in ihrer Funktion als Andam-Jury-Mitglied erstmals wieder öffentlich in der Fashion-Szene aufgetreten war. Ein Ritterschlag durch Phoebe Philo dürfte wohl mit das Größte sein, was eine junge Designerin erreichen kann, die die Zeit als reif ansieht, „dass Männer mehr mit Kleidung experimentieren“. Zuvor hatte Bianca Saunders schon die Aufmerksamkeit von Gucci-Chef Alessandro Michele wecken können, der der Newcomerin im Sommer 2020 die Gelegenheit gegeben hatte, im Rahmen seines „Digital Fashion Festivals“ ihren Kurzfilm mit dem Titel „The Pedestrian“ vorzustellen, in dem Models eine eigens entwickelte Kapselkollektion mit ultraskulptural geschnittenen Mänteln und Anzügen samt mächtigen Schulterpolstern präsentiert hatten. Das Medium Film spielt für Saunders ohnehin eine große Rolle, weil sie damit ihre Kollektionen ins rechte Licht rücken kann.
Auch das mit dem Andam-Preisgewinn zusätzlich verbundene, einjährige Mentoring durch den Balenciaga-Geschäftsführer Cédric Charbit dürfte Bianca Saunders hocherfreut haben. „Ich kann nicht in Worte fassen, wie begeistert ich bin“, so Saunders in ihrer Dankesrede, „eine so prestigeträchtige Auszeichnung zu erhalten. Und ich fühle mich wirklich geehrt. Die Betreuung durch einen so wichtigen Akteur der Branche sowie finanzielle Unterstützung wie diese werden mir helfen, mich wirklich auf das Wachstum meines Unternehmens zu konzentrieren und meinen Lebenstraum zu verwirklichen – Bianca Saunders als globale Modemarke zu etablieren.“
Nach ihrem größten Erfolg in Frankreich war es folgerichtig, dass Bianca Saunders mit ihrer ersten Solo-Ausstellung Anfang 2022 in Paris debütieren würde. Ihre Show im Palais de Tokyo für den Herbst/Winter 2022/2023 war so etwas wie ein Meilenstein, weil sie dabei die Identität ihrer Marke festigen konnte. Die Kollektion mit dem Titel „A Stretch“ zeichnete sich durch experimentelle Schneiderkunst und asymmetrische Musterung aus, beispielsweise ein verspielt verzogenes Karoprint. Standard waren hingegen die gefalteten Hosen mit gedrehten Nähten und asymmetrischen Reißverschlüssen. Eyecatcher waren Jacken mit gekerbten Ausschnitten und plissierten Schultern. Highlights eine grüne Lederjacke mit Rollschulterdetails sowie ein breitschultriger roter Mantel. Naomi Campbell war nach der Show derart aus dem Häuschen, dass sie die Designerin, die inzwischen ein eigenes Studio im Londoner Stadtteil Lewisham unterhält, spontan zum Abendessen einlud.
Im September 2022 war sie zum zweiten Mal in Paris zur Präsentation ihrer Männermode für den Sommer 2023 zu Gast. Saunders, die längst von allen großen Luxusmode-Versandhäusern geführt wird, hatte schon ein deutlich gesteigertes Selbstwertgefühl offenbart: „Andam zu gewinnen bedeutet, mich nicht mehr als aufstrebende Designerin zu betrachten, sondern als Designerin, die es ernst meint mit Mode, mit meinem Publikum, mit Qualität und Handwerk.“ Die Kollektion konzentrierte sich wieder auf maßgeschneiderte Oberteile und zeigte schon bekannte Teile wie eine konvex gesäumte Bomberjacke – aber auch Ungewöhnliches wie einen langen Mantel aus gebundener Gabardine. Dazu kamen wendbare Langarm-Twin-Sets, Strickpullover mit aufgesetztem Ausschnitt, bequeme Rollkragenpullover sowie weite Satinhosen. Das Besondere an der Kollektion, die im Titel „Hard Food“ auf jamaikanische Lebensmittel abzielte, fasste Saunders so zusammen: „Die Stücke waren entweder vorne hart oder hinten weich, oder sie hatten die Fließfähigkeit von bewegtem Wasser. Ich denke, es war mal eine andere Art, meine Kultur in die Mode zu bringen.“