Kanadas Ostküste ist ein Abenteuerspielplatz, der vielseitiger kaum sein kann. Alle sechs Stunden wechselt er sein Gesicht. Hier an der 240 Kilometer langen Küste von New Brunswick hat das stete Auf und Ab des Meeres Land und Menschen tief geprägt.
Nirgendwo spürt man den Puls des Atlantiks so wie in der Bay of Fundy. Zweimal am Tag schlägt sein Herz mächtig und pumpt gewaltige Wassermassen in die Meeresenge zwischen Maine auf der US-amerikanischen Seite, Nova Scotia und New Brunswick im Nordosten Kanadas. 16 Meter steigt der Meeresspiegel an manchen Stellen bei Flut. Bei Ebbe zeigt der Atlantik seinen grauen Grund.
Das Wasser steht hoch in der Bay. Am Morgen war Nebel aufgezogen. Irgendwo da draußen muss die Sonne längst über den Horizont gekrochen sein. Doch sie hält sich bedeckt, so als wolle die Stadt sich verstecken. Vor dem mächtigen Ozean, der zweimal am Tag mit solcher Kraft an ihre Ufer drängt, dass er hier den gewaltigsten Tidenhub der Welt produziert.
Die Flut überrollt später den Fluss
Genauer gesagt ist es die Konstellation zwischen Sonne, Mond und Erde, die den Atlantik bewegt. 160 Milliarden Tonnen Wasser werden zweimal täglich in die Bay gedrückt und wieder hinaus. Mehr als die gesamten Trinkwasservorräte der Welt. Die Enge der Bucht wirkt dabei wie ein riesiger Trichter. „Ein Effekt wie in einer Badewanne, wenn das Wasser von einem Ende ans andere hochschwappt“, erklärt Beth Johnston, die unsere Reise begleitet. Wir starten von Saint John entlang der Küste der Bay of Fundy, bis wir die Enden der Bay am Cape Hopewell erreicht haben.
Ich nippe an meinem Kaffee. Kein Regen prasselt herab. Kein Windhauch fegt um die Ecke. Wo nur ist die Stadt geblieben? Bis zur Bay sind es nur wenige Schritte. Also raus aus dem Hotel. Runter in den Hafen. Ein kleiner schmucker Leuchtturm wacht am Market Square. Und siehe da! Das Meer liegt still und hoch in der Bay. Der Himmel ist grau und fahl und am Ufer drüben auf der anderen Seite blasen die Schlote der Irving Pulp and Paper Fabrik ihren Dampf in den feuchten Morgen. Ein wenig idyllischer Anblick. Saint John ist eben auch eine Industriestadt.
Nicht unweit davon bietet die Natur jedoch im Wechsel von Ebbe und Flut ein umso faszinierenderes Spektakel an den Reversing Falls Rapids of Saint John. Die Stromschnellen entstehen südlich der Hafenstadt an der Mündung des Saint John River in die Bay of Fundy. Hier wirken die Kräfte der Gezeiten besonders eindrucksvoll. „Bei Ebbe stürzt der Fluss an den Reversible Falls unter der Wasseroberfläche 60 Meter tief in ein Loch“, erklärt Beth. Stunden später, wenn die Flut in die Bay of Fundy strömt, überrollt sie den Fluss regelrecht, kehrt seine Fließrichtung um und presst ihn landeinwärts bis nach Fredericton in die Hauptstadt. Es sind gewaltige Naturkräfte, die an diesem Abschnitt der Atlantikküste seit Jahrmillionen wirken.
In Saint John liegen jetzt die viktorianischen Lager- und Kaufmannshäuser zwischen Prince William-, Germain-, Union- and King Street im schönsten Sonnenschein. New Brunswicks bezaubernde Hafenstadt entfaltet ihren ganzen Charme, oberhalb der Bay, in der historischen Uptown. Live-Musik dringt aus einem Pub in die Prince William Street und überall in der Stadt wird gefeiert. Kanada! Was sonst? Es ist Canada Day, Nationalfeiertag.
Das Kommen und Gehen des Wassers, der dicke zähe Nebel. Und upps! Mit einem Mal ist die Welt hell und klar. Erfüllt vom Duft des Ozeans mit seinem Geschmack nach Salz und Muscheln, der hinaufsteigt bis auf die Hügel der Germain Street. „Dieses Versteckspiel, man kennt es an den Küsten“, sagt Beth. Der ständige Wechsel der Gezeiten, das Wetter, die Landschaft und das Meer haben die Menschen geprägt“, erklärt sie. „Mehr als Franzosen und Engländer zusammen.“
Die Europäer hatten sich einst blutige Schlachten im Land der Mi’kmaq geliefert. In Queens Square, einem kleinen Park, oberhalb der Bay, erinnert eine Statue an Samuel de Champlain. 1604 war der Entdecker auf die Mündung des Flusses Rivière de Saint Jean gestoßen. Fromm wie er war, benannte er den Fluss nach Johannes dem Täufer. Wenig später folgten die ersten französischen Siedler und ließen sich als Bauern und Fischer an der Küste nieder. Das französische Erbe ist weitgehend verblasst. Wesentlich prägender waren die Engländer. Allen voran die königstreuen Loyalisten. Sie hinterließen im 18. und 19. Jahrhundert deutliche Spuren in Kanadas einziger Provinz, die bis heute mit Französisch und Englisch als Amtssprachen offiziell bilingual ist.
1784, als die Amerikanische Revolution die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten einläutete, suchten viele Königstreue in New Brunswick eine neue Heimat. Mit ihnen wurde Saint John zu einer mächtigen und florierenden Handelsstadt. Die meisten Akadier flohen in die Wälder, in den tiefen Süden der USA und in die Karibik. Nur wenige kehrten zurück. Ihre Nachkommen leben heute im Norden der Provinz oder in Nova Scotia.
Hier findet man viel Lebensqualität
New Brunswick bietet neben viel Geschichte auch viel Ruhe. Beschauliche Küstenorte, kleine Inseln und mit knapp 750.000 Einwohnern nur wenige Menschen und noch weniger Touristen. Kanadas drittkleinste Provinz ist noch immer ein Geheimtipp. Kein Schaulaufen, dafür jede Menge Lebensqualität. Sogar US-Präsident Franklin D. Roosevelt suchte Entspannung in seiner Sommerresidenz auf dem kanadischen Campobello im Süden der Bay of Fundy. Das Inselchen ist mit Maine nur über eine Brücke verbunden, aber weit entrückt vom geschäftigen Trubel der Neuengland-Staaten.
In Sichtweite liegt Grand Manan Island gut 45 Autominuten südlich von Saint John. Mit der Fähre erreicht man Grand Manan Island von Blacks Harbour aus. Sie ist die größte der gut 15 Inseln und Felsplatten des gleichnamigen Archipels.
Mag das Leben in Städten wie Saint John, Fredericton oder Moncton, wie überall in Kanada, inzwischen jung, lässig und modern sein. Hier an der Küste ist es geprägt von Tradition, von der Seefahrt und einem ebenso pragmatischen wie idyllischem Purismus. In den beschaulichen Fischerdörfern trifft man vor allem Einheimische. Noch immer fahren sie zur See, werfen die Netze aus und bringen täglich Hering, Lachs, Jakobsmuscheln, Sardinen und Hummer an Land. Verarbeitet wird der Fang wie seit Urzeiten: geräuchert und anschließend von der würzigen Seeluft getrocknet auf den durchlüfteten Dachböden der Häuser. Der Anblick von Schiffstauen, -bojen und Hummerreusen ist so allgegenwärtig wie Ebbe und Flut und die Leuchttürme.
Obwohl längt automatisiert und auf dem neuesten Stand der Technik, finden die historischen Schifffahrtszeichen nach wie vor ihre Liebhaber. Ken Ingersoll ist so einer. Ein Mann mit festem Händedruck und freundlichen, wachen Augen. Gemeinsam mit seiner Frau hat der heutige Witwer über Jahre hinweg den Long Eddi North Point Leuchtturm auf Grand Manan Island restauriert und fit gemacht für den Einsatz. Wegen seines Nebelhorns liebevoll „The Whistle“ genannt, warnt er bis heute Seeleute vor den Tücken des Meeres. „Das Ding funktioniert“, sagt er sichtlich zufrieden. Zum Unmut der Nachbarn. „An diesen Felsklippen reicht ein Licht oft nicht aus“, sagt er. „Da braucht es Stärkeres wie dieses Horn. Der Nebel kann hier wattedicht sein.“ Das können wir bestätigen. Aber nicht immer ist das Wetter der Übeltäter. Die Bay of Fundy ist fischreich und ein beliebter Jagdgrund für Raubfische. Da muss Ingersoll auch mal sehr kurzfristig eine Kajak-Tour absagen, wenn er sieht, wie unterhalb des Leuchtturms die Rückenflosse eines weißen Hais durch die Dünung pflügt. „Ja, die fühlen sich hier auch wohl.“ Ingersoll lacht. Er kennt die Eigenheiten dieser Küste, die hier zum Teil 100 Meter steil abfällt, und doch empfindet er noch immer tiefe Ehrfurcht vor dem Meer.
Kleines Museum im unteren Tal
An der Südspitze der Insel überragt der Southwest Head Leuchtturm den Swallotail Lighthouse. Ingersoll hat auch dieses Prunkstück unter seine Fittiche genommen und im unteren Teil ein kleines Museum eingerichtet. Von hier aus führt ein gemütlicher Wanderweg mit herrlichen Ausblicken in die südliche Passamaquoddy Bay an der Küste entlang. 48 Leuchttürme gibt es in New Brunswick. Einige von ihnen stehen sogar im Inland am Ufer der Flüsse, so gewaltig drängt das einfließende Wasser oft weit ins Land hinein.
Von Grand Manan Island setzen wir mit der Fähre über nach St. Andrews. Das knapp 2.000-Seelen-Städtchen präsentiert sich deutlich mondäner und gilt als die einstige Loyalisten-Hochburg. Wegen seiner idyllischen Lage auf der Spitze einer kleinen Halbinsel im weiten Zufluss der Bay of Fundy und dem Golf von Maine wurde es zu Kanadas erster „Sea Side Resort Town“ gekürt. Charmante Architektur, Kunst und Kulturveranstaltungen und der mit zahlreichen Auszeichnungen geehrte Kingsbrae Garden locken Einheimische ebenso wie Touristen und Kulturliebhaber. Eine Nacht im „Algonquin Resort“ ist allemal eine Erinnerung wert. Die Gewässer rund um St. Andrews sind fischreich und ein beliebter Tummelplatz für Wale. Beim „Whale watching“ mit Quoddy Link Marine hat man gute Chancen, einige der riesigen Meeressäuger vor die Linse zu bekommen.
Bevor wir über St. Martins und die Hopewell Rocks, das wohl bekannteste Wahrzeichen von New Brunswick, weiterfahren, machen wir einen kurzen Abstecher nach Ministers Island, gleich vor der Küste von Maine. Es ist Ebbe, der zurückweichende Atlantik hat eine gut ein Kilometer lange Passage freigegeben. Es sieht aus, als hätte sich das Meer geteilt. Mit dem genauen Gezeitenkalender im Gepäck und etwas Schwung fahren wir mit dem Auto auf dem steinig-schlammigen Grund des Atlantiks auf die Insel und tauchen für kurze Zeit ein in Kanadas Eisenbahngeschichte. William van Horne hatte Ende des 19. Jahrhunderts den Osten Kanadas über den Canadian Railroadway mit dem Westen des Kontinents verbunden und sich auf Ministers Island ein stattliches Sommerhaus im Stil einer Lodge gebaut.
„Das Wetter ist unberechenbar“
Zurück auf sicherem Grund geht es entlang der malerischen Küstenstraße Richtung St. Martins über den gut 200 Quadratkilometer großen Fundy National Park bis zu den Flower Pot Rocks am Cape Hopewell. Ihren Namen verdanken die teils 20 Meter hohen bewachsenen Sandsteintürme ihrem Aussehen: Von weitem gleichen sie Blumentöpfen. Bei Ebbe wirken die Felsformationen wie mächtige Kobolde auf dem Meeresgrund. Ein Spaziergang über den Meeresboden führt vorbei an kleinen Höhlen, Bögen und Felsnadeln über Schlick und Seegras. Allzu lange sollte man hier nicht unterwegs sein. Wenn die Flut eintrifft, kommt sie an dieser Stelle der Bay of Fundy schnell und unerbittlich. Am Ende des Strandes gibt es zwar eine Rettungsplattform. Doch wer sich vor der Flut sie retten muss, braucht viel Geduld, bevor er wieder festen Boden unter den Füßen hat. Wesentlich spannender ist es, bei Flut eine Tour mit dem Kajak zu unternehmen. Die mächtigen Hopewell Rocks versinken nun im Atlantik und bilden verwunschene Inselchen, die wir mit dem Kajak spielend umschiffen.
Der Weg vom Cape Hopewell zurück nach Saint John führt uns auf 30 Kilometern über die neu eröffnete Panoramastraße, den „Fundy Trail Parkway“, bevor wir die letzte Nacht im hübschen Fischerdorf St. Martins verbringen. 37 Besucherplattformen geben den Blick frei auf die imposante Küste von New Brunswick. Geübte Wanderer können auf 26 markierten Wegen den Küstenabschnitt hautnah erleben. Aber Vorsicht! Spazierwege sind das nicht. „Die Atlantikküste ist hier wild und ungebändigt. Das Wetter ist unberechenbar und bei einem Tidenhub von 16 Metern ist Planung alles“, sagt Beth.