Vor 125 Jahren wurde Margaret Rutherford geboren, die der legendären Hobby-Detektivin Miss Marple von Agatha Christie ihr prägnantes Gesicht verlieh. Als Theater- und Filmschauspielerin gelang der Britin erst in vergleichsweise hohem Alter der Durchbruch.
Sie war wahrlich keine Schönheit mit ihrem gewaltigen Kinn, den schmalen Lippen, die sie auf unnachahmliche Weise nach innen stülpen konnte und den Silberlöckchen. "Wenn man so ein Gesicht hat wie ich die Amerikaner haben es ein englisches Muffin genannt muss man lernen, damit zu leben", sagte die am 11. Mai 1892 in London geborene Margaret Rutherford. "Das ist mir, glaube ich, gelungen." Diese Merkmale verliehen der Schauspielerin schon zu Beginn ihrer späten Karriere ein liebenswert kauziges Äußeres, zu dem auch noch krumme Beine und ein "Gesicht wie ein Faltenrock", so das "Hamburger Abendblatt", gehörten. Fast zwangsläufig war für sie auf Bühne und Leinwand die Rolle der schrulligen alten Lady reserviert, in der sie wie kaum eine andere brillierte.
Am Londoner Globe Theatre konnte sie 1939 als Gouvernante Miss Prism in dem Oscar-Wilde-Klassiker "The Importance of Being Earnest" erstmals einen großen Erfolg feiern. Als ihr Regisseur George Pollock die Hauptrolle für die zwischen 1961 und 1964 gedrehten vier Miss Marple-Filme anbot, war Rutherford schon fast 70 Jahre alt. Doch nicht nur beruflich war sie so etwas wie ein spätes Mädchen. Auch privat sollte sie erst im Alter von 53 Jahren als Braut vor den Traualtar treten und den sieben Jahre jüngeren Kollegen Stringer Davis heiraten, der ihr fortan Engagements in vielen ihrer Filme verdanken sollte.
Ihre Mutter
beging Selbstmord
Nicht erst mit den Miss-Marple-Fällen traten Mord und Totschlag in ihr Leben. Das Verbrechen wurde ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt. William Rutherford Benn hatte in geistiger Umnachtung seinen Vater 1883 mit einem tönernen Nachttopf erschlagen. Nach Entlassung aus der Nervenheilanstalt kam William wieder mit seiner aus einer Lehrerfamilie stammenden Ehefrau Florence, geborene Nicholson, zusammen. Für einen Neuanfang und mit Rücksicht auf den Ruf von Williams älterem Bruder John, der ins Parlament eingezogen war, legte das Ehepaar den Nachnamen Benn ab und ersetzte ihn durch Williams zweiten Nachnamen Rutherford den Mädchennamen seiner Mutter. Nach Geburt der Tochter Margaret Taylor Rutherford wanderte die Familie nach Indien aus. 1895 kehrten Vater und Tochter wieder nach Großbritannien zurück, nachdem die schwangere Mutter in der britischen Kronkolonie Selbstmord begangen hatte.
Der seelisch zerrüttete Vater überließ die dreijährige Margaret der Fürsorge ihrer in London lebenden Tante Bessie Nicholson. Schon im Grundschulalter soll Margaret häufiger ihr Talent als Schauspielerin und Klavierspielerin auf Schulfesten oder bei Familienfeiern offenbart haben. Nach dem Wechsel auf das Mädcheninternat Ravens Croft in Sussex wurden dort Margarets Fähigkeiten am Klavier durch Unterricht weiter gefördert. Vieles spricht auch dafür, dass die junge Margaret in Sussex zusätzlich noch Sprechunterricht erhielt. Noch während der Internatszeit konnte sie 1911 an der Royal Academy of Music die Prüfung als Klavierlehrerin ablegen und danach auch noch das Diplom als Sprecherzieherin erwerben. Bis zum Tod der Tante im Jahr 1923 lebte Rutherford in deren Haus, sorgte durch Unterricht in ihren beiden Spezialfächern für beider Lebensunterhalt und kümmerte sich um die Pflege ihrer gegen Ende immer kränklicheren Verwandten.
Dank der kleinen Erbschaft konnte Margaret nun Schauspielunterricht nehmen. 1925 wurde sie als Studentin an der dem renommierten Londoner Old Vic Theatre angeschlossenen Schauspielschule aufgenommen und konnte bis Mai 1926 erste Bühnenerfahrungen in kleinen Rollen bei diesem Schauspielhaus sammeln. In den folgenden Jahren kam sie mit ihrer Karriere aber kaum einen Schritt voran. Sie musste weiterhin Klavierunterricht geben, da sie von der Schauspielerei allein nicht leben konnte. Erst das Engagement im Princes Theatre in Bristol ab 1935 mit dem Triumph in besagtem Oscar-Wilde-Stück (1939) sollte den Durchbruch bringen. Schon drei Jahre zuvor hatte Rutherford ihren ersten Leinwand-Auftritt als Miss Butterby im Krimi-Drama "Dusty Ermine" absolviert.
Agatha Christie
war "not amused"
Auch während des Krieges ging das Theaterleben in London weiter. Rutherford sorgte damals vor allem als Madame Arcadi in Noel Cowards Komödie "Blithe Spirit" (1941) auf der Bühne für Furore. Bei der Kino-Umsetzung dieses Stückes im Jahr 1945 sollte Rutherford ebenso ihre Theaterrolle auf der Leinwand verkörpern wie 1950 die Miss Witchurch in Frank Launders "The Happiest Days of Your Life" (deutscher Titel: "Das doppelte College") oder 1952 bei "The Importance of Being Earnest" ("Ernst sein ist alles").
Auch wenn Rutherford in den 50ern nach und nach zu einer britischen Theaterlegende aufstieg und noch bei einer ganzen Reihe weiterer Filme vor der Kamera stand beispielsweise 1954 in "Aunt Clara" ("Die Erbschaft der Tante Clara") oder 1957 in "Just My Luck" ("Ein Spatz in der Hand") wurde sie international doch erst durch die Miss- Marple-Produktionen bekannt. "Ihre Miss Marple", so der "Tagesspiegel", "wurde ein Weltstar, der Inbegriff der kriminalistischen Idylle. Eine Ikone des Eigensinns, der die Zuversicht wie Plätzchenduft in den Kleidern hing. Ihr Publikum liebte sie, wie Kinder eine versponnene Tante lieben."
Allerdings bedurfte es einiger Überredungskünste, um die Schauspielerin, die schon wegen ihres privaten Lebenslaufs eine Höllenangst vor allem Kriminellen hatte, zur Annahme der Hauptrolle zu animieren. Schließlich gelang es ihrem Ehemann Stringer Davis und ihrer Adoptivtochter Dawn Simmons, einer Transsexuellen, die sich Ende der 60er-Jahre in einer der weltweit ersten geschlechtsangleichenden Operationen zur Frau umwandeln ließ, Rutherfords Bedenken zu zerstreuen. Allerdings ließ sie vor Vertragsunterschrift eigens für ihren Gatten die Rolle des Mr. Jim Stringer ins Drehbuch aufnehmen den bei Agatha Christie nicht existenten vorsichtig-zögerlichen Bibliothekar und Miss Marples treuen, etwas schusseligen Ermittlungsgehilfen in Knickerbocker-Hosen.
Darüber war die Autorin natürlich nicht sonderlich erfreut. So sah sie überhaupt Margaret Rutherford in der Rolle der Miss Marple als absolute Fehlbesetzung. Denn die Hobby-Detektivin ihrer Romane war keineswegs als resolute Schnüfflerin und wehrhafte Matrone in wallenden Umhängen oder wehendem Cape angelegt, die ihr kriminalistisches Wissen aus der Krimiliteratur geschöpft hatte, sondern als kultivierte, etwas blasshäutige, hochgewachsene und zerbrechlich wirkende, ältere weißhaarige Dame mit Spitzenhäubchen aus der oberen Mittelschicht mit einem Kaminkränzchen als Ermittlerteam.
Aber wozu sich weiter groß aufregen, wird sich Agatha Christie sicherlich gedacht haben, nachdem sich der Regisseur die Freiheit genommen hatte, nur beim ersten Film 1961 "Murder She Said" ("16 Uhr 50 ab Paddington") der Romanvorlage noch einigermaßen zu folgen. Beim zweiten und dritten Film, "Murder at the Gallop" ("Der Wachsblumenstrauß") von 1963 und "Murder Most Foul" ("Vier Frauen und ein Mord") von 1964, wurden Geschichten von Agatha Christies zweiter Detektivfigur Hercule Poirot für Miss Marple einfach adaptiert. Und dem vierten Film aus dem Jahr 1964 "Murder Ahoy" ("Mörder ahoi!") lag überhaupt kein Christie-Roman als Drehbuchbasis mehr zugrunde. Agatha Christie bezeichnete den ersten Film als "anspruchslos", die drei folgenden als "unglaublich dumm". Was sie aber nicht davon abhielt, sich mit Margaret Rutherford, die für jeden Miss-Marple-Film ein stolzes Honorar von 16.000 Pfund kassierte, anzufreunden und ihre schauspielerische Leistung anzuerkennen.
1961 wurde Rutherford zum Officer of the British Empire ernannt, 1967 wurde sie von der Queen in Anerkennung ihrer schauspielerischen Leistungen als Dame Commander of the British Empire in den Ritterstand erhoben. Auch einen Oscar und einen Golden Globe Award konnte Rutherford einheimsen als beste Nebendarstellerin in der Rolle der unkonventionellen Herzogin von Brighton an der Seite von Liz Taylor und Richard Burton in dem Streifen "Hotel International" von Anthony Asquith. 1965 mimte sie in "Falstaff" von Orson Welles die Wirtin Hurtig.
1967 drehte sie ihren letzten Film mit Charlie Chaplin, wobei sie in "A Countess from Hong Kong" ("Die Gräfin von Hongkong") wieder ihre Paraderolle spielte, eine skurrile alte Jungfer.
Noch im gleichen Jahr brach sie sich die Hüfte, war danach nicht mehr arbeitsfähig. Angeblich halfen ihr diskrete finanzielle Zuwendungen seitens des britischen Königshauses über die ärgsten finanziellen Engpässe hinweg. Nachdem sie, obwohl schon unter Alzheimer leidend, noch ihre Autobiografie fertiggestellt hatte, verstarb sie elf Tage nach ihrem 80. Geburtstag am 22. Mai 1972 in ihrem kleinen Bungalow in Chalfont St. Peter/Buckinghamshire. Sie war mit sich im Reinen: "Mein Erfolg kam spät, aber wenn ich so sagen darf in recht sensationeller Art".
Peter Lempert