Das kürzlich vorgelegte Gutachten des Sachverständigenrats für Gesundheit und Pflege kommt zu einem wenig schmeichelhaften Ergebnis. Ein möglicher Ausweg aus dem deutschen Schön-Wetter-Gesundheitssystem wäre die Bündelung der Kompetenzen, sagt Prof. Dr. Ferdinand Gerlach.
Mit energischen Schritten betritt Prof. Dr. Ferdinand Gerlach den Raum der Bundespressekonferenz, direkt gegenüber dem Kanzleramt. Unter seinem Arm das jüngste Gutachten zur Lage des deutschen Gesundheits- und Pflegewesen. Sein markantes Gesicht verrät, dass er kein Schreibtisch-Doktor ist, sondern ein gelernter, klassischer Hausarzt der alten Schule, der in Gemeinschaftspraxen in Kiel, Bremen und Frankfurt am Main jahrelang direkt am Patienten gewirkt hat. Er hat sich hochgearbeitet. Seit fast 20 Jahren ist er nun Universitätsprofessor für Allgemeinmedizin und Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main tätig. Doch auch da hat er den Kontakt zu den Menschen, die bei ihm Hilfe suchen, nicht verloren. Gerlach kennt die Schwachstellen des deutschen Gesundheitssystems, welche jüngst im Gutachten „Resilienz um Gesundheitswesen“ des Sachverständigenrates Gesundheit und Pflege zusammengefasst wurden. Demnach sei das deutsche Gesundheitswesen nicht krisensicher. So hätte man aus der gerade erst überstandenen Pandemie, nichts oder jedenfalls nicht viel gelernt und darum auch keine Rückschlüsse für die Zukunft gezogen. „Aufgrund des komplizierten Bund-Länder-Geflechts bei den Aufgaben im Gesundheitswesen, haben wir ein Umsetzungsproblem“, sagt Prof. Gerlach. „Nach zwei Jahren Pandemie wissen die politisch Agierenden zwar, wo es hakt, dennoch gibt bis zum heutigen Tag beispielsweise keine zentrale Erfassung der Fallzahlen von Covid-19-Infizierten. Ein Problem, welches aus der Struktur des Krankenhaussystems in der Zusammenarbeit mit den örtlichen Gesundheitsämtern resultiert. Während der Pandemie wurden die Probleme klar benannt und diesbezüglich Besserung gelobt, doch passiert ist bislang nicht viel. „Sollten wir also heute eine ähnliche Situation haben wie im Frühjahr 2020, dann würden wir erneut vor den gleichen Problemen stehen, wie vor genau zwei Jahren“, bringt es Prof. Gerlach auf den Punkt. Bei der Einordnung des eigenen Gesundheitssystems neige man in Deutschland ganz offensichtlich zur Selbsttäuschung. Immer wieder sei von allen 17 Gesundheitsministern von Bund und Ländern betont worden, dass Deutschland das beste Gesundheitssystem der Welt habe. Aussagen, welche Prof. Gerlach zum Schmunzeln bringen. „Wir haben das weltweit komplizierteste Gesundheitssystem. Unter formaljuristischer Betrachtung ist es ein Schön-Wetter-System, das in normalen Zeiten bestens funktioniert, aber auf besondere Situationen nicht reagieren kann. Trotz aller Beteuerungen seitens der Politik hat sich an den Abläufen bislang nichts geändert. Die Entscheidungen werden weiterhin durch Datenschutzauflagen behindert. Dazu kommt, dass wir nicht einen Gesundheitsminister haben, sondern gleich 17. So schön die Eigenständigkeit der Länder auch sein mag, in einer Krisensituation ist diese wenig hilfreich. Das haben wir bereits schon bei mehreren Situationen erleben können, als jedes einzelne Bundesland eine eigene Entscheidungen getroffen hat.“
Der Fokus liegt nicht nur auf Pandemien, auch der Klimawandel spielt eine erhebliche Rolle
Diese komplexen Entscheidungswege konnten gerade wieder im Januar des neuen Jahres bewundert werden. Das Thema: Maskenpflicht in Bus und Bahn. Während die einen Länder diese Regelung abschafften und die anderen an dieser akribisch festhielten, schaute der Bund dem Treiben lediglich ratlos zu. Anfang Februar fiel dann endlich die Entscheidung gegen die Maskenpflicht. Ein Dreivierteljahr, nachdem die Maskenpflicht in Flugzeugen aufgehoben wurde. Ein Widerspruch, den selbst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bis heute nicht plausibel erklären kann.
„Um so etwas zu verhindern, braucht es zukünftig einen ganzheitlichen Ansatz“, sagt der Vorsitzende des Sachverständigenrats Gerlach. „Wir brauchen die Bündelung der Kompetenzen und einen völlig neuen All-Gefahren-Ansatz.“ Das heißt, in besonderen Gefahrensituationen muss künftig eine zentrale Koordinierungsstelle geschaffen werden, in der durchgreifend Entscheidungen getroffen werden können. „In einer Gefahrensituation, wie zum Beispiel während der Pandemie, gehört eine weitgehend unkoordinierte Kommunikation zu den schlimmsten Szenarien, weil sie den Unsicherheitsfaktor innerhalb der Bevölkerung steigern könnte. So eine Situation muss zukünftig verhindert werden.“
Dabei liegt das Augenmerk nicht nur auf möglichen Pandemien. Auch der Klimawandel spielt eine erhebliche Rolle. Das weiß Fachexpertin des Sachverständigenrates Prof. Petra Thürmann. „Unsere europäischen Nachbarn setzen sich nicht nur schon seit Jahren sehr intensiv mit den Folgen von Hitzewellen auseinander, sondern haben längst auch entsprechende Notfallpläne erarbeitet“, sagt Thürmann. Hier in Deutschland sei man dagegen noch ziemlich weit davon entfernt. „Das Thema ist zwar bekannt, wird aber nach unserem Eindruck erst mal liegen gelassen.“ Dabei verweist Prof. Thürmann auf die sich immer häufiger wiederholenden Hitzewellen in den letzten zehn Jahren. Stellt sich so eine Wetterlage ein, leiden vor allem die vulnerablen Gruppen, also Ältere und Vorerkrankte. Darum müssen hier Bund und Länder Vorkehrungen treffen, um diesen Personenkreis besser zu schützen. „Dazu gehören zum Beispiel bundesweite Hitzeaktionspläne zwischen Bund und Ländern. Dazu gehört aber auch ein Echtzeit-Monitoring der Patienten in der Notaufnahme, welche mit den aktuellen Wetterdaten verknüpft wird. Der Deutsche Wetterdienst beispielsweise bietet seit Jahren bei besonderen Wetterlagen detaillierte Karten für Hitzewellen an. Damit könnten sich Notaufnahmen, aber vor allem Seniorenheime, besser auf diese extremen Wetterbedingungen vorbereiten.“
Auch eine elektronische Patientenakte, die über die Krankenkassenkarte sofort abrufbar ist, würde in solchen Fällen weiterhelfen. Doch auf eine schnelle Einführung einer solchen digitalen Hilfe hat Petra Thürmann nur wenig Hoffnung. Auch der Sachverständigenrat weist seit zehn Jahren in seinen Gutachten immer wieder auf diese möglichen Lösungen hin. „Doch egal, wer gerade in Berlin regiert, aus Datenschutzgründen wurde die elektronische Patientenakte bis zum heutigen Tag nicht angegangen“, sagt Prof. Gerlach.