Die bundesdeutschen Zubauziele für Windenergie an Land werden bis 2024 nicht erreicht. Deshalb brauche es mehr Mut, flankierende Maßnahmen und schnellere Genehmigungsverfahren, sagen Experten.
Braunkohle, Kohle und Erdgas – die deutsche Kraftwerkslandschaft stützt sich nach wie vor auf fossile Brennstoffe. Die Ampelregierung will „idealerweise 2030“ aus der Kohleverstromung aussteigen. Das stößt nicht überall in Deutschland auf Gegenliebe, selbstverständlich nicht in den deutschen Braunkohlerevieren. Damit der Ausstieg überhaupt umgesetzt werden kann, müssen erneuerbare Energien deutlich stärker ausgebaut werden als zuletzt. Die Planziele, die sich Deutschland gesetzt hat, werden jedoch nicht eingehalten. Das Ausbauziel für Windenergie bis 2024 ist beispielsweise nicht mehr zu erreichen: 69 Gigawatt an Land hatte die Bundesregierung vorgegeben, im ersten Halbjahr waren es nun laut Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gerade mal 1,5 Gigawatt, 3,8 sind für das Gesamtjahr laut Marktdatenstammregister der Bundesnetzagentur erwartbar. Genehmigt wurden jedoch bereits 643 neue Anlagen, mehr als jeweils in den beiden Jahren zuvor. Worauf es nun ankommt, sei das Tempo von Genehmigungen, rasche Finanzierungen und vor allem die Akzeptanz der Bevölkerung, sagen Experten.
643 neue Anlagen sind genehmigt
Energieökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin geht der Ausbau nicht schnell genug. „Der Kohleausstieg müsste bis 2030 stattfinden, damit die Klimaziele von Paris gehalten werden können. Dies kann nur gelingen durch einen deutlich schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien und insbesondere der Windenergie. Zwar zeigt der Trend des Ausbaus der Windenergie erfreulicherweise in die richtige Richtung – dass mehr Anlagen zugebaut werden –, aber der Zubau reicht nicht.“ Schon die Zubaumengen seien zu gering, um die Ziele der Energiewende zu erreichen. „Wenn selbst diese nicht erreicht werden, sind wir nicht auf dem richtigen Pfad.“
Deshalb müssten die Rahmenbedingungen weiter angepasst werden, Sonderausschreibungen könnten die Kapazitäten weiter erhöhen. „Zudem wäre eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren essenziell, wir benötigen die ‚Deutschland-Geschwindigkeit‘, die wir seit den Genehmigungen der LNG-Terminals kennen, auch und gerade für die Windenergie. Sollte Personal in den Ämtern fehlen, wäre eine kurzfristige Unterstützung aus Berlin wünschenswert.“
Martin Weibelzahl, Professor für Data Analytics und Experte für digitale Energie, sieht im Übergangszeitraum von fossiler zu erneuerbarer Energie die Versorgungssicherheit in Deutschland gewährleistet – durch Reservekraftwerke und den europäischen Strommarkt. „Was mir allerdings Sorge bereitet: die Tatsache, dass die Politik bereits ihr allererstes Ziel im Jahr 2024 verfehlen wird. So kann die Glaubwürdigkeit der Politik, alles in ihrer Macht Stehende für eine Zielerreichung zu tun, enorm leiden.“ Vor allem jene Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Politik seien heute entscheidender denn je, um die riesigen Investitionen zu realisieren – nicht nur in erneuerbare Energien, sondern auch in intelligente Netze oder Speicher.
Deshalb glaubt auch Weibelzahl daran, dass der Zubau stärker forciert werden müsse. „Und zwar überall: auf dem Land, auf dem Wasser und auf unseren Dächern. Wenn es uns gelingt, Wirtschaft und Gesellschaft bei diesem großen Kraftakt mitzunehmen, bin ich guter Dinge. Dies erfordert allerdings auch innovative politische Werkzeuge, für die sich die Politik stark machen und mutig sein muss. Ohne eine mutige Politik droht uns, bei jedem neuen Ziel weiter zurückzubleiben. Ich würde sagen, Energiepolitik ist nichts für Feiglinge.“
So brauche es mehr Flexibilität, Haushalte müssten sich auch als Teil der Energiewende verstehen, die schon bei Balkonkraftwerken beginne. Darüber hinaus müsse jedoch der Stromnetz-Ausbau beschleunigt werden, so Weibelzahl. Der Flaschenhals der deutschen Energiewende, um Strom aus dem windreichen Norden in den windärmeren Süden zu transportieren, kommt insgesamt erst langsam in Fahrt. Aber es gibt Ausnahmen. So investiert beispielsweise Netzbetreiber Amprion in den kommenden Jahren Rekordsummen, weil die Genehmigungsverfahren beschleunigt wurden.
Viertens müsse laut Weibelzahl neben schnellerem Zubau, höherer Flexibilität und verstärktem Netzausbau über ein anderes Strompreismodell nachgedacht werden – eines, das lokal und individuell Preise regelt, statt wie derzeit über einen Stromgroßhandel. „Beim sogenannten Nodal Pricing bilden sich Strompreise individuell für jeden Knotenpunkt im Stromnetz. Sie steuern den Ausgleich von Angebot und Nachfrage unter Berücksichtigung aller relevanten Netz-Engpässe und unterscheiden sich damit fundamental vom aktuellen Einheitspreissystem.“
Nadelöhr bleibt der Transport
Wichtig sei zudem die Akzeptanz der Bevölkerung, so das Institut für Zukunftsenergie- und Stoffstromsysteme (IZES) in Saarbrücken. Ergänzend zu der finanziellen Beteiligung der Kommunen an den Erträgen aus den Anlagen der Erneuerbaren sollten die Gesetzgebenden in Bund und Ländern demnach auch die Verfahrensbeteiligung der Bürgerinnen und Bürger stärken. „Für die Akzeptanz des Ausbaus der Erneuerbaren ist es sehr wichtig, dass sich die Menschen vor Ort spürbar und ernsthaft an Planungsprozessen beteiligen können“, so IZES-Forschungskoordinatorin Eva Weiler. Dafür sei eine „qualitativ hochwertige Ausgestaltung der formellen Planungs- und Genehmigungsprozesse, die ein hohes Maß an Transparenz und frühzeitiger Kommunikation gewährleistet“, notwendig. „Zusätzlich können die Gemeinden oder die Länder begleitende Moderations- und Dialogformate wie etwa Bürger*innenräte bezüglich lokaler Energiewendethemen nutzen, um die prozessuale Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger zu stärken.“
Wolfram Axthelm, Geschäftsführer des Bundesverbandes Windenergie, ruft die Bundesländer dazu auf, die Bundesgesetze strukturiert anzuwenden, um so schnell mehr Genehmigungen zu erreichen. „Neue Genehmigungen sind der Gradmesser für den politischen Erfolg in der Energiepolitik. Deshalb müssen die Behörden vor Ort wissen, dass der Ausbau der Windenergie durch die jeweilige Landesregierung gewollt ist.“ Doch es gebe einen weiteren Flaschenhals für die Windkraft: den Transport der riesigen Bauteile für Windräder an ihren Standort. Über 15.000 unbearbeitete Anträge in der bundeseigenen Autobahn GmbH, dazu fehlende Erreichbarkeit, ständig wechselnde Bearbeiterinnen und Bearbeiter und unklare Prozesse seien nicht mehr zu akzeptieren, so Axthelm. Der Windkraftausbau hängt also vor allem an dringend notwendigen Unterschriften, kurz, der Bürokratie. Eine Hürde, die letztlich Bund und Länder niederreißen müssten.