Sollte nicht mal allmählich Schluss sein mit der Stasi-Aufarbeitung? Nein, sagt Roland Jahn, zuständig für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, denn noch immer verlangen Zeitzeugen Akteneinsicht. Er möchte, dass das Archiv zu einer Diskussions-Plattform wird: „Wir wollen die ehemalige Stasi-Zentrale zu einem Campus für Demokratie entwickeln."
Herr Jahn, die Wende ist fast 30 Jahre her – welche Bedeutung hat Ihre Behörde denn heute noch?
Es geht darum, die Hinterlassenschaft der Stasi sowohl denen zur Verfügung zu stellen, die die Zeit erlebt haben, als auch der nächsten Generation. Wir haben zudem vom Deutschen Bundestag den Auftrag, eine dauerhafte Sicherung der Stasi-Unterlagen zu organisieren, damit diese Akten langfristig genutzt werden können. Zur Aufklärung darüber, was die SED-Diktatur war und wie Mechanismen von Diktaturen funktionieren.
Gibt es nach so langer Zeit überhaupt noch Anfragen?
Aktuell haben wir jeden Monat etwa 4.000 Anträge zur persönlichen Akteneinsicht. Öffentliche Stellen nutzen dieses Archiv zur Überprüfung im öffentlichen Dienst oder wenn jemand einen Orden bekommen soll. Und natürlich können auch Journalisten und Wissenschaftler das Archiv nutzen, zur Aufklärung über Diktatur und Herrschaftsmechanismen in der DDR.
Aber irgendwann dürfte das ja nachlassen …
Auch die nächsten Generationen wollen wissen, wie die Geheimpolizei eingegriffen hat in das Leben dieser Menschen. Wir sind in dem Sinne Teil des Gedächtnisses der Nation, deswegen ist unsere Zukunft auch eine, die unter dem Dach des Bundesarchivs stattfinden soll. Es geht darum, die Sichtbarkeit der Eigenständigkeit des Stasi-Unterlagen-Archivs deutlich zu machen. Die Öffnung der Stasi-Unterlagen ist eine Errungenschaft der friedlichen Revolution von 1989. Erstmalig in der Welt wurden die Akten einer Geheimpolizei gesichert und der Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Die Nutzung dieses Archivs durch die Betroffenen ist ja noch immer im Gange.
Wer nutzt das Archiv vorrangig?
Es gibt diejenigen, die diese Zeit erlebt haben – und erstaunlicherweise kommen viele Menschen auch nach so vielen Jahren noch und wollen in ihre Akte schauen. Das hat, so erzählen sie, damit zu tun, dass sie jetzt die Zeit haben, ihr Leben zu ordnen, weil sie Rentner sind. Es hat aber auch damit zu tun, dass die Enkelgeneration ihren Großeltern Fragen stellt und sie auffordert, in die Akten zu gucken. Und Rehabilitierung ist ja ein Punkt, der nicht nur die strafrechtliche Seite betrifft, sondern auch die berufliche, die ja eine Rolle spielt, wenn es um die Rente geht. Jemand, der jetzt seinen Rentenbescheid bekommt und feststellt, mir fehlen da ein paar Jahre, da ich damals im Beruf politisch verfolgt wurde, der kann mithilfe der Recherche im Stasi-Unterlagen-Archiv Dokumente finden, die dies belegen. Und es gibt auch die nächste Generation, die ihr Familienschicksal aufklären will. Das ist nach dem Gesetz möglich. Wer wissen will, wie die Geheimpolizei in die Familie eingegriffen hat, der kann praktisch auch in die Akten der verstorbenen Eltern und Großeltern schauen. 17 Prozent der Erstanträge sind aktuell von Angehörigen von Verstorbenen.
Das widerspricht ja doch sehr den Bestrebungen, einen Schlussstrich unter die Stasi-Akten zu ziehen …
Die Diskussion um Schlussstriche, das ist vielleicht in den 90er-Jahren gewesen. Ich denke, dass sich in der Gesellschaft doch durchgesetzt hat, dass ein Blick in die Akten ein Gewinn ist, auch für die Gesellschaft insgesamt. Es wird keiner gezwungen, in seine Akte zu schauen. Jeder hat auch die Freiheit, zu vergessen. Für uns als Gesellschaft aber ist es wichtig, dass wir die Stasi-Unterlagen bereitstellen, dass es diese Option gibt.
Die eine Seite sind die konkreten Fälle. Aber wie wollen Sie dazu beitragen, dass man versteht, wie ein totalitäres Regime funktioniert?
Es ist wichtig, dass wir Diktaturen nicht nur in Schwarz-Weiß betrachten, sondern Mechanismen offenlegen. Warum passen sich Menschen an, wie funktioniert das System der Angst? Mein Bestreben ist es, dass wir dabei nicht eine General-Aufarbeitungsbehörde sind, der Eindruck ist in den 90er-Jahren manchmal entstanden. Wir tragen zur Aufklärung bei. Deswegen werden wir uns in Zukunft auch stärker darauf konzentrieren, zum Beispiel für Bildung und Wissenschaft als Dienstleister aufzutreten. Damit wir dieses Archiv weiter lesbar machen.
… das ja unglaublich umfangreich ist!
Das Stasi-Unterlagen-Archiv ist schwer mit anderen zu vergleichen. Üblicherweise wird ja zum Beispiel bei Akten von Ministerien eine repräsentative Auswahl für das Aufbewahren in Archiven getroffen. Bei uns steht der Gesamtbestand einer Geheimpolizei zur Verfügung, jedes aufgefundene Blatt Papier. Das fordert uns heraus, die Möglichkeiten, die dieses Archiv bietet, noch weiter zu erkunden.
Geht so etwas denn innerhalb Ihrer Behörde? Oder muss man sie reformieren?
Das knüpft daran an: Wir bewegen uns weg von einer Behörde, die die DDR erklären will, hin zu einem Dienstleister, der die Stasi-Unterlagen der Gesellschaft zur Verfügung stellt. Damit machen wir das Archiv begreifbar, damit ein freier Diskurs stattfinden kann –
sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wissenschaft. Es ist wichtig, dass es kein vorgeschriebenes, staatliches Geschichtsbild gibt. Zu einer umfassenden Debatte gehören auch die Zeitzeugen und andere Quellen. Es darf natürlich nicht sein, dass die Dokumente der Staatssicherheit allein die Geschichte schreiben. Wir brauchen die Vielfalt der Meinungen für einen gesellschaftlichen Diskurs.
Wie ist denn die Meinung der Zeitzeugen? Wie gehen sie damit um, dass im Archiv eine Akte über sie liegt?
Akteneinsicht ist sehr individuell, und der Einblick in die Akten wird sehr unterschiedlich wahrgenommen. Manche haben eine Scheu davor gehabt, da reinzugucken, weil sie nicht erfahren wollten, wer aus dem direkten Umfeld sie verraten hat. Sie wollten das einfach ruhen lassen. Auch das ist eine Herangehensweise, die nachzuvollziehen ist. Aber insgesamt kann ich schon sagen, dass viele Menschen es als Gewinn gesehen haben, Aufklärung über die Eingriffe in ihr Leben zu bekommen. Ich persönlich habe das ja auch wahrgenommen.
Haben sich für Sie Dinge, Ereignisse geklärt?
Der Staat hat sich so verhalten, dass ich das Gefühl hatte, es ist wie ein Stück Leben, das einem gestohlen worden ist. Man begreift beim Lesen der Akten, wie die Stasi hier versucht hat, zu steuern. Auch in der Bewertung bestimmter Ereignisse. Als ich aus der Universität ausgeschlossen wurde, wie sehr habe ich da meine Freunde aus der Universität verachtet, weil sie für meinen Ausschluss von der Universität gestimmt haben! Als ich dann in den Stasi-Unterlagen gesehen habe, wie das alles abgelaufen ist, wie die Stasi auf jeden Einzelnen eingewirkt hatte, da habe ich das Ereignis plötzlich mit anderen Augen sehen können. Ich konnte nachvollziehen, wie Menschen schwach geworden sind, dass sie nicht die Kraft gehabt hatten, Widerstand zu leisten und dass sie sich untergeordnet und gegen mich gestimmt haben.
Haben Sie das Gespräch gesucht mit den Menschen, die in Ihrer Akte standen?
Für mich war es sehr wichtig, dass ich noch einmal die Namen der Hauptverantwortlichen gesehen habe. Wer hat die Befehle unterschrieben? Der Stasi-Chef hat handschriftlich selbst die Befehle für meine gewaltsame Ausbürgerung gegeben. Das war ein großer Einschnitt in mein Leben und das von meinen Eltern. Wer waren die Stasi-Offiziere, die mich in der Haft drangsaliert haben? Wer waren die Spitzel in meinem direkten Umfeld? Wer waren die falschen Freunde, die Informationen an die Stasi geliefert haben? Ich habe mit allen das Gespräch gesucht. Der Kopf des Ministeriums, Erich Mielke, lebt schon lange nicht mehr. Aber ich habe als Journalist mit den Stasi-Offizieren und den Generälen, die dort bis zuletzt tätig waren, das Gespräch gesucht. Auch mit meinen Stasi-Vernehmern, um über ihre Motive ihres Lebensweges etwas zu erfahren. Ich habe auch das Gespräch gesucht mit den Spitzeln, die ganz konkrete Informationen aus meinem persönlichen Umfeld geliefert haben.
Wie haben sie reagiert?
Es gab sehr unterschiedliche Reaktionen. Einige waren sehr offen, andere haben einfach abgeblockt. Mir war wichtig, nachzuvollziehen, was geschehen ist. Bei denen, die Offenheit gezeigt haben, da habe ich auch gemerkt, dass eine kritische Reflexion eingesetzt hatte. Am Ende geht es bei der Aufarbeitung darum, Konflikte der Vergangenheit zu bereinigen. Dafür zu sorgen, dass Menschen für ihr Handeln Verantwortung übernehmen. Dass vielleicht sogar eine Entschuldigung kommt. Bei Freunden von mir, die dichtgemacht haben, da ist die Beziehung abgebrochen. Bei denen, die bereit waren, offen zu sprechen und sich zu entschuldigen, da hat die Beziehung ein neues Fundament bekommen.
Erfahrungen, die weitergegeben werden müssen: Geht Ihre Behörde denn auch nach außen, zum Beispiel in Schulen, um präventiv zu arbeiten?
Wir haben ganz bewusst die Arbeit draußen in den Schulen eingestellt, weil wir keine Generalaufarbeitungsbehörde sind. Außerdem haben wir gar nicht die Kapazität.
Wir bieten Materialien online an, und Schulen kommen zu uns ins Archiv; wir machen spezielle archivpädagogische Angebote, bei denen Schüler lernen können, mit Quellen umzugehen und mit Stasi-Unterlagen zu arbeiten. Wie nutzt man Dokumente zur Aufarbeitung von Geschichte? Gerade in Zeiten von Fake News ist es wichtig, dass junge Menschen Medienkompetenz entwickeln. Wer hat was warum mit welchen Zielen aufgeschrieben? Mithilfe der Stasi-Unterlagen kann man lernen, sich fit darin zu machen, in dieser doch sehr schnellen Gesellschaft Informationen einzuordnen.
Nun gehörte die Stasi ja zur DDR – ist die Aufarbeitung überhaupt relevant für die westdeutschen Länder?
Es ist unsere gesamtdeutsche Geschichte, über die wir sprechen. Die Stasi hat nicht nur in der DDR eine Rolle gespielt, sondern war auch überall in Deutschland unterwegs. Die Stasi im Westen ist durchaus ein Teil der Aufklärung, die mithilfe von Stasi-Unterlagen stattfindet.
Wir haben immer ganz bewusst am 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit, der ja jedes Jahr in einem anderen Bundesland ausgerichtet wird, einen Einblick in das Stasi-Unterlagen-Archiv gegeben, damit uns bewusst wird: Die Stasi geht uns alle an.
Wenn Sie in die Zukunft blicken: Haben Sie Angst, dass sich Geschichte wiederholt? Könnte es in Deutschland womöglich wieder eine Geheimpolizei geben?
Das ist mir zu spekulativ. Es geht darum, dass wir aufklären über Mechanismen, die Unrecht erzeugen. Dass wir dadurch den Menschen etwas an die Hand geben, damit sie sich schützen können vor Gefahren für die Demokratie – das ist für mich das Entscheidende.
Dass die Vermittlung von Geschichte nur dann richtig funktioniert, wenn die Menschen sich die Frage beantworten können: Was hat das mit mir zu tun? Dass man die eigenen Lebensumstände in Bezug setzen kann. Deshalb ist die Idee so wichtig, dass wir gerade die historischen Orte nutzen, um Themen zu diskutieren. Wir wollen die ehemalige Stasi-Zentrale zu einem Campus für Demokratie entwickeln, auf dem aktuelle Themen angesichts des geschehenen Unrechts diskutiert werden können. Mein Leitgedanke ist: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten. Das aber ist kein Selbstläufer.