Jahrzehntelang galt der Mangel des Glückshormons im Gehirn als wesentliche Ursache für Depressionen. Inzwischen wurde das widerlegt. Aber auch viele andere Hypothesen können die Entstehung der komplexen Krankheit nur bedingt wissenschaftlich fundiert erklären.
Was stimmt, ist, dass man im Detail nicht verstanden hat, was eine Depression auslöst." Diese Aussage aus dem Munde von Prof. Ulrich Hegerl, dem Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig sowie dem derzeitigen Vorsitzenden der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, ist mehr als bemerkenswert. Lässt sich aus ihm doch ziemlich deutlich das Dilemma ableiten, mit dem es Experten wie Betroffene auf der Suche nach den Ursachen der Erkrankung gleichermaßen zu tun haben. Und es ist wohl auch eine Erklärung dafür, dass es so viele Thesen oder Hypothesen über die mögliche Entstehung von Depressionen gibt. Wobei die verschiedenen Erklärungsansätze gleichsam gebetsmühlenartig an einem zentralen Punkt zusammenlaufen.
Hier kommt die Biochemie des menschlichen Gehirns ins Spiel. Genauer gesagt gilt seit einem halben Jahrhundert das Axiom, dass Depressionen letztlich durch ein Ungleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn ausgelöst werden. Dabei spielt vor allem ein zu niedriger Wert des im Volksmund als Glückshormon bekannten Serotonins die wesentliche Rolle. Aber auch ein Mangel an weiteren Botenstoffen wie Dopamin oder Noradrenalin ist damit meist verbunden. Dieses Axiom bildet gewissermaßen die Grundlage für das seit Jahrzehnten scheinbar bewährte Allheilmittel Antidepressivum. Denn bei ihnen handelt es sich um Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, mit deren Hilfe der Serotoninspiegel korrigiert und als Folge davon Gehirn, Schwermut und letztlich auch der Mensch wieder geheilt werden können. Eine schöne Geschichte, die vor allem eine scheinbar einfache Lösung des Gesundheitsproblems verspricht.
Das Knifflige daran ist allerdings, dass die neurowissenschaftliche Forschung bislang noch niemals einen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen Serotonin-Mangel und psychischen Störungen belegen konnte. „Keine einzige Untersuchung", so der Pharmakologe Felix Hasler von der Berlin School of Mind and Brain, „konnte bisher nachweisen, dass ein niedriger Serotoninspiegel im Hirn die Ursache für Depressionen ist." Das sieht der renommierte englische Psychiater Tim Kendall, der als Direktor des britischen Centre for Mental Health von der britischen Regierung damit beauftragt wurde, die Behandlungsleitlinien für Depressionen auf der Insel neu zu erstellen, genauso: „Diese Serotonin-Hypothese ist totaler Quatsch. Ich habe mir die Daten angeguckt, und sie sind Müll. Die Serotonin-Hypothese hält keiner Prüfung stand. Wir wissen heute, dass die Idee, dass ein einzelner Botenstoff für Depressionen verantwortlich gemacht werden kann, eigentlich lächerlich ist."
Verschreibungszahlen nehmen zu
Das Verdienst, das scheinbar felsenfeste Fundament des Serotonin-Mythos ins Wanken gebracht zu haben, gebührt allerdings dem US-Psychologen Prof. Irving Kirsch von der Harvard Medical School and Beth Israel Deaconess Medical Center, einer grauen Eminenz und einem absoluten Wissenschafts-Star. Dieser hatte in einer 2008 publizierten Studie den Glauben an die Wirksamkeit von Antidepressiva grundlegend erschüttert, weil er unter Berufung auf den Freedom of Information Act, der jedem US-Amerikaner Akteneinsicht in behördliche Dokumente erlaubt, nach Auswertung sämtlicher Zulassungsanträge für Antidepressiva – also nicht nur solchen, die von den Pharmaunternehmen freiwillig veröffentlicht, sondern auch jenen, die unter Verschluss gehalten worden waren – zu dem überraschenden Ergebnis gekommen war, dass die Medikamente kaum wirksamer als zum Vergleich eingesetzte Placebos waren. Bei 82 Prozent der Patienten konnte die Wirkung der verabreichten Antidepressiva auch mit Zuckerpillen erreicht werden. Nur bei Patienten mit ganz schweren Depressionen übertraf die Wirkung der Medikamente diejenige der Scheinmedikamente. „Den Menschen geht es besser, wenn sie die Medikamente nehmen", so Kirsch, „aber es sind nicht die chemischen Bestandteile der Medikamente, die ihnen helfen. Das ist weitestgehend der Placebo-Effekt."
Nachdem Kirsch seine frappierenden Forschungsergebnisse, die inzwischen durch weitere Studien bestätigt wurden, 2012 in einem US-TV-Magazin einer breiten Öffentlichkeit präsentiert hatte, hatte das eine große Debatte in den USA und einen regelrechten Krieg unter Wissenschaftlern zur Folge. Auch in Deutschland wurde darüber berichtet, aber im Wesentlichen wurden die Resultate nur von einem kleinen Fachpublikum zur Kenntnis genommen. Die große Mehrheit der deutschen Ärzte und Psychiater setzt weiterhin auf die Antidepressiva. Die Verschreibungszahlen nehmen sogar hierzulande immer weiter zu. In Großbritannien hingegen wurde die Reißleine gezogen und von einer Verabreichung der Medikamente bei leichten und mittleren Depressionen abgeraten. So weit geht die inzwischen angepasste deutsche Behandlungsleitlinie nicht, weil sie nur bei leichten Depressionen zu Alternativen zu Antidepressiva rät. In Irland und Schweden haben hingegen die zuständigen Behörden den Pharmakonzernen sogar offiziell die gängige Werbebotschaft verboten, ihre Mittel könnten ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn eines Erkrankten beheben.
Seltsamerweise weigert sich selbst die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bislang, die neuen Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen. Auf ihrer Website steht daher nach wie vor zu lesen: „Viele Untersuchungen deuten darauf hin, dass Depressionen durch typische Veränderungen von Botenstoffen im Gehirn gekennzeichnet sind." Über die Gründe dafür kann man nur spekulieren. Fakt ist allerdings, dass der Serotonin-Mythos ab den späten 80er-Jahren von der Pharmaindustrie als Marketinginstrument für die neu entwickelten Antidepressiva erfunden und seitdem überaus erfolgreich eingesetzt wurde. Es ist ihr vor allem perfekt gelungen, die simplifizierende Serotonin-These fest in den Köpfen der hiesigen Ärzteschaft einzupflanzen. „Die ärztliche Weiterbildung", so Prof. Tom Bschor, Chefarzt der Abteilung Psychiatrie in der Schlosspark-Klinik in Berlin-Charlottenburg, einer der besten Adressen für die Behandlung von Depressionen in Deutschland, „wurde und wird immer noch in großen Teilen von der Industrie durchgeführt. Die Meinungsbilder sind im großen Umfang finanziell verknüpft mit der Industrie, haben Beraterverträge, bekommen Honorare, bekommen Symposien bezahlt."
Dennoch verschreibt auch Bschor vor allem seinen schwerkranken Patienten weiterhin Antidepressiva mit der Begründung: „Wenn wir sagen, ein Großteil der Wirkung eines Antidepressivums ist ein Placebo-Effekt, dann ist das ein positiver Effekt. Im Sinne des Patienten. Ist es deswegen denn ärztlich falsch, wenn man ein Medikament mit einem großen Placebo-Effekt gibt? Hoffnung auslösen, das hat immer schon zur Heilkunst gehört."
Entzündungen im Körper beeinflussen die Psyche
Depressionen haben die Menschheit schon immer vor Rätsel gestellt. Die alten Griechen lieferten das erste Erklärungsmodell mit der Säftelehre. Sie glaubten, dass die Störung der Psyche durch ein Zuviel an schwarzer Gallenflüssigkeit verursacht wurde. Im Mittelalter war die Meinung vorherrschend, dass die Schwermut eine Strafe Gottes sei. Heute geht man davon aus, dass eine Depression in der Regel aus einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren resultiert, wobei vor allem genetische Aspekte und umweltbedingte Faktoren, sprich psysische und psychosoziale Aspekte, die wesentliche Rolle spielen. Wobei sich beide Bereiche nicht ausschließen, sondern meist leidvoll ergänzen. Sind Verwandte ersten Grades betroffen, wird das Risiko, selbst eine Depression zu entwickeln, auf 15 Prozent taxiert. Bei eineiigen Zwillingen liegt der Prozentsatz bei mindestens 50 Prozent. Genetische Faktoren können darüber hinaus die als Vulnerabilität bezeichnete Anfälligkeit gegenüber pychosozialen Belastungen erheblich erhöhen.
Bei der seelischen Komponente werden Lebenserfahrungen wie eine aus einem ängstlich-fürsorglichen Erziehungsstil in der Kindheit resultierende Hilflosigkeit im Erwachsenendasein, Traumatisierungen oder Missbrauchserlebnisse, aber auch aktuelle Verlust- oder Stress-Überlastungssituationen als Auslöser der Krankheit in den Fokus gerückt. Psychische Nöte können durchaus auch körperliche Beschwerden wie Schlaf- oder Essstörungen, Verdauungsbeschwerden, Funktionsstörungen der Schilddrüse, sexuelle Antriebslosigkeit, Herzschmerzen sowie Kopf-, Gelenk- oder Muskelprobleme hervorrufen. Jüngste Studien haben die biologische Seite mehr in den Vordergrund rücken lassen. Demnach sollen Entzündungen im Körper die Psyche negativ beeinflussen können, eine andere Untersuchung hat entzündliche Immunreaktionen im Gehirn selbst nachweisen können. Auch Herpes-Viren als Trigger einer Erkrankung halten Wissenschaftler für möglich. Veränderungen im Hormonhaushalt nicht zu vergessen, schließlich sind gerade viele Frauen von Depressionen betroffen, die die Pille nehmen. Für den Winter-Blues, die bei manchen Menschen regelmäßig wiederkehrende Depression in der dunklen Jahreszeit, wird die zu geringe Zufuhr von Vitamin D mangels ausreichendem Sonnenlicht verantwortlich gemacht.