Michael Himbert ist Spastiker. Mit dieser Diagnose schlägt sich der 54-Jährige zeitlebens herum. Die Herausforderung bestimmt sein Leben. Mittlerweile ist er nach jahrzehntelangem Training endlich angekommen und hat vor allem über die Musik einen Weg gefunden, sich und seine spastische Lähmung anzunehmen. Und er klärt andere über die Krankheit auf.
Michael Himbert ist von Geburt an spastisch gelähmt: Infantile Cerebralparese, so der Fachbegriff. Im vergangenen Jahr hat er sich getraut und sein Leben mit der Behinderung in Form eines Vortrages für Lehramtstudenten greifbar gemacht. Als er damals die letzten Worte seines Vortrags spricht, bleibt es still im Saal, niemand applaudiert. Er erinnert sich daran, wie der Gedanke durch seinen Kopf schießt: „War es wirklich so scheiße?" Doch dann wacht das Publikum auf und im nachfolgenden Gespräch vermitteln ihm die Menschen, wie sehr seine Worte sie bewegt haben.
Eigentlich ist Himbert pädagogische Fachkraft an einer Förderschule in Rheinland-Pfalz. Als er vom Studienseminar gefragt wird, über seine spastische Lähmung zu referieren, zögert er. „Ich bin weder Arzt noch Psychotherapeut oder Heiler", sagt er. „Aber ich kann die Geschichte erzählen, die ich erlebt habe." Heute ist er froh, dass er es getan hat. Was eine spastische Lähmung ist, wie man damit lebt, welche Schmerzen und Einschränkungen sie mit sich bringen kann, wissen die Wenigsten. Das Schimpfwort Spasti hält sich hartnäckig in der Alltagssprache. Himbert weiß das und provoziert bewusst mit dem Titel seines Vortrages: „Die Geschichte vom Spasti, der Rockkonzerte trommelt".
Eine spastische Lähmung ist die Folge einer krankhaft erhöhten Muskelspannung. Fehlimpulse werden vom Gehirn an die Muskulatur gesendet, was dazu führt, dass die betroffenen Muskeln verkrampft sind. Der permanente Zug der Muskulatur, manchmal Tag und Nacht, verhindert nicht nur einen normalen Bewegungsablauf, beispielsweise aufrechtes Gehen oder Sitzen, sondern bereitet oft auch große Schmerzen. Bewegungen, die für die meisten so alltäglich sind, dass sie nicht einmal darüber nachdenken müssen, sind mit einer spastischen Lähmung oft nur sehr schwer möglich. Wenn ein Spastiker etwa umständlich nach einem Glas greift oder gebückt durch die Stadt geht, sieht das für Außenstehende merkwürdig aus. „Der Körper sucht immer einen Weg, wie es am einfachsten geht", erklärt Himbert diese Bewegungsmuster.
„Der Körper sucht immer einen Weg"

Michael Himbert kam 1964 dreieinhalb Monate zu früh zur Welt. Die ersten sechs Monate wussten seine Eltern nicht, ob er am Leben bleibt. Doch er hat sich durchgekämpft, zurückbehalten hat er seine spastische linke Körperhälfte. Seine Kindheit in den 60ern ist geprägt von Krankenhausaufenthalten, Kuren und Therapien, die seine Haltung verbessern und die Gliedmaßen entspannen sollen. An die schematisch abgespulten Korrekturversuche und Brecheisenmethoden in den Behandlungszimmern hat er schlimme Erinnerungen: „Wenn du eine halbe Stunde lang vor Schmerzen schreist, kann der Körper nichts lernen, schon gar nicht Entspannung." Als Kind versteht er nicht, was die Übungen bewirken sollen. Die Erwachsenen scheinen es selbst nicht zu wissen. Heute, nach vielen Jahren, hat er herausgefunden, dass die für ihn wirksamsten Entspannungstechniken in keinem Lehrbuch stehen. Von der Feldenkrais-Methode bis hin zu Tai-Chi hat er vieles ausprobiert, um die Haltung von Bein, Arm und Hüfte zu korrigieren. Dabei hat er in vielen anstrengenden und schmerzhaften Episoden aber vor allen Dingen eines gelernt: seinen Körper zu verstehen, der ihm lange fremd war. „Die ganzen Jahre über waren da immer nur mein Kopf und meine Gedanken. Mein Körper war zwar dabei, aber er hat nie wirklich zu mir gehört. Ich konnte ihn sehen, aber was ich sah, gefiel mir nicht, eine ins Hohlkreuz gezwungene Wirbelsäule, einen angewinkelten Arm, ein hinkendes Bein."
Es ärgert ihn, dass Menschen mit körperlichen Behinderungen aus medizinischer Perspektive oft als fehlerhaft dargestellt werden mit einem Anspruch von Perfektion, dem kein Mensch entspreche. Seit seinen Kindertagen hat er sich deshalb oft „falsch gefühlt". Heute hat Himbert selbst die Leitung einer Klasse von Schülern mit geistiger und teilweise auch körperlicher Behinderung. Er nutzt die Möglichkeiten, das zu vermitteln, was er mühsam gelernt hat. Und er versucht das nachzuholen, was man bei ihm teilweise versäumt hat. Er will vermitteln, dass es nicht um Richtig- oder Falschsein geht. „Es ist erst mal wichtig zu lernen, dass du gut so bist, wie du bist. Vor allem als Kind, da bist du erst recht gut so, wie du bist."
Obwohl seine Eltern sich stets sehr für ihn einsetzen, stößt auch die Familie an ihre Grenzen. Eine Geschichte, an die sich Himbert erinnert, beginnt mit einem sehnlichen Wunsch und endet vor dem Handballtor. Himbert erzählt vom Vater, der ein genialer und erfolgreicher Sportler war. „Das wollte ich auch!" Seinem Traum kommt er näher, als er als Junge in eine Handballmannschaft aufgenommen wird und mittrainieren darf. Doch dass dieser Sport nicht seine Berufung ist, wird ihm bei einem Turnierspiel schmerzlich klar. „Im Handball kein Tor zu werfen, ist die große Ausnahme, und ich war der Einzige, der kein Tor gemacht hatte. An diesem Tag haben sie mir 500 Mal den Ball zugeworfen, und selbst die gegnerische Mannschaft hat irgendwann gedacht, er soll doch endlich das Ding reinmachen. Doch das Spiel wird ohne ein Tor von mir abgepfiffen." Heute ist es für ihn eine Anekdote, damals eine große Enttäuschung. Nach dem Spiel sitzt er in der Stadionhalle und heult.
Spielt im Orchester und einer Bigband
Aber nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Himbert verabschiedet sich von dieser Sportart und stürzt sich mit Leidenschaft in eine andere Beschäftigung, die ihn schon als Dreijährigen fasziniert hat: das Schlagzeugspielen, oder Trommeln, wie er sagt. Die Handball-Episode bezeichnet er heute rückblickend als Harakiri-Mission. Auch der Wunsch, Schlagzeuger zu werden, ist für einen Spastiker nicht eben naheliegend. Aber Micha, wie seine Kumpels ihn nannten, übt, probiert aus, bekommt Unterricht und findet trotz des Handicaps Möglichkeiten. Er spielt schließlich im Orchester und in einer Bigband. Immer mit dabei ist seine ganz eigene Art, mit den Dingen umzugehen und für jedes körperliche Hindernis, das beim Schlagzeugspielen auftritt, eine passende Lösung zu suchen. Himberts älterer Bruder spielt Bass in einer Band. Als der Schlagzeuger dieser Band kurz vor einem Auftritt abspringt, übernimmt Micha seinen Part, da ist er 16. Die Auftritte eröffnen ihm eine neue Welt. „Ich dachte, was ist denn das für ein Film? Da stehen die Leute, jubeln und schreien, und schlagartig war mir klar: Ich werde Rockmusiker! Natürlich nicht nur der Mädchen wegen."
Im wahren Leben absolviert er dann in den 80er-Jahren doch eine Ausbildung zum Erzieher und arbeitet in Berlin in einer Integrations-Kita. Er wird zum ersten Mal Vater in der Zeit, als in Berlin die Mauer fällt. Später macht er eine zweite Berufsausbildung zum Mediengestalter. Rockmusiker ist Himbert zwar nicht geworden, aber die Musik begleitet ihn. Das Schlagzeugspielen fordert ihn heraus, es liefert ihm den Impuls, immer weiter an seinem Körper zu arbeiten. In verschiedenen Bands und Konstellationen hat er mittlerweile getrommelt. Körperlich kommt er damit zeitweise so an seine Grenzen, dass ihm die stundenlangen Auftritte und Proben nicht mehr möglich sind. Er beginnt mit dem Singen. Ein Freund vertont seine Texte, die schon lange in der Schublade darauf warteten, eine Form zu bekommen. Das Schlagzeugspielen hat ihm geholfen, besser mit seinem Körper klarzukommen, das Schreiben, so sagt er, heilt das Herz. Zurzeit arbeitet er an einem Programm, das seine Musik, seine Texte und Erzählungen über sein Leben verbindet.
Wer Michael Himbert kennenlernt, trifft einen offenen Mann mit Sinn für Humor. Wenn er von sich selbst erzählt, ist das kein Lamentieren über das Leben mit Einschränkung. Vielmehr ist es eine Geschichte voller Ambitionen, vom Überwinden von Hürden und dem Erreichen von Erfolgen, in der es, wie wahrscheinlich bei allen Menschen um eines geht: darum, sich selbst zu erkennen und so anzunehmen, wie man eben ist. In Zeiten von Bodyshaming, in denen jede Unzulänglichkeit, jeder vermeintliche Makel zum Thema wird, bleibt eine der zentralen Aussagen aus Michael Himberts Vortrag besonders in Erinnerung: Es gehe darum, sich „von der Abwertung der eigenen Person freizumachen, sich nicht zwanghaft perfektionieren zu wollen. Ich sage mir dann diese riesigen, oft kaum greifbaren Worte: Lebe im Jetzt! Ich bin gut so, wie ich bin!"