Deutschland geht es laut Bundesregierung blendend – und dennoch gelten laut Kinderschutzbund knapp 4,5 Millionen Kinder als arm. Das schlägt sich auch auf ihre Bildungschancen nieder. „Die Tendenz geht in Richtung Spaltung der Gesellschaft", sagt der Soziologe Olaf Groh-Samberg. Er fordert Mut zu Reformen.
Herr Groh-Samberg, für Kinder aus armen Familien gibt es zehn Euro im Monat für Sportclub oder Musikunterricht. Laut Paritätischer Forschungsstelle wird dieses Angebot aus dem Bildungs- und Teilhabepaket aber kaum wahrgenommen. Wie kann das sein?
Wir haben hier ein viel zu kompliziertes System mit viel zu komplizierten Antragsverfahren! Und auch viel zu viele Komponenten, die da greifen. Man hat ja in den letzten Jahren versucht, das zu vereinfachen, aber es ist nach wie vor einfach hyperkomplex: SGB II, Kinderzulage, Wohnungsgeld, Bildungs- und Teilhabepaket … Wie das alles sozial ineinander spielt, das ist einfach zu kompliziert. Es gibt viel mehr Menschen, die Anspruch auf diese Leistungen hätten, als sie tatsächlich in Anspruch nehmen. Und natürlich ist diese Nichtinanspruchnahme eine Möglichkeit, wenn man so will, um am Ende Kosten zu senken.
Viele empfinden es ja auch als Stigma, solche Leistungen in Anspruch zu nehmen.
Ja, alle bedarfsgeprüften Leistungen haben dieses Element. Man muss immer den Bedarf geltend machen, der muss auch geprüft werden. Man muss die Tatsachen auf den Tisch legen, man muss sich nackt machen. Man gerät in die Rolle des Bittstellers. Gerade im Schulkontext ist natürlich die Inanspruchnahme dieser Leistung damit verbunden, dass Mitschüler und Mitschülerinnen das mitbekommen. Das ist sehr schamhaft für Kinder.
Auch wenn die Kinder dann Leistungen bekommen, sind sie oft zu niedrig. Handelt die Politik da nicht naiv?
Ich glaube, das ist ein Problem der mangelnden Ausstattung der Schulen und des Bildungssystems insgesamt in Deutschland. Gerade an Schulen, die mehr Aktivitäten machen, müssen die Eltern häufig draufzahlen. So etwas leisten sich Schulen, die von der sozialen Zusammensetzung der Schüler- und der Elternschaft besser gestellt sind. Da wird von den Schulen etwas eingefordert, und die Eltern zahlen auch bereitwillig – man will ja etwas Gutes für seine Kinder. Aber in Stadtteilen, wo Eltern diese ökonomischen Ressourcen nicht haben, werden solche Aktivitäten eben gar nicht erst organisiert, weil das zu viel kostet. Viele Schulen sind finanziell gar nicht in der Lage, etwas für ihre Schüler zu organisieren, denn sie müssten den Eltern in die Tasche greifen. Das widerspricht eigentlich der Lernmittelfreiheit.
Das heißt, schon die Schullandschaft ist geteilt. Zieht sich das weiter durch die ganze Gesellschaft?
Ich würde diese Frage bejahen. Wir sehen empirisch, dass die Tendenz eher in Richtung Spaltung als in Richtung Integration oder Durchmischung geht. Das sieht man vor allem darin, dass der Anteil der Menschen, die dauerhaft in Armutsbedingungen leben, kontinuierlich angestiegen ist. Es gibt Phasen, wo die Armut auch mal stagnierte, aber es gibt kaum Phasen, wo die Armut zurückgegangen ist. Die Tendenz ist ein Anstieg. Sehr signifikant ist, dass es Menschen, die in Armut geraten, schwer fällt, aus der Armut wieder herauszukommen. Wir haben ein riesiges Problem bei der Verfestigung von Armut, bei der abnehmenden Mobilität aus der Armut heraus. Wir sehen eine Verhärtung dieser Gruppen.
Wer hat daran Interesse?
Eigentlich kann niemand ein Interesse an einer Spaltung haben. Ich glaube, dass die Sozialpolitik in den letzten Jahrzehnten unterschätzt hat, dass weder die Betroffenen, noch die Mittel- oder Oberschichten in so einer segmentierten und gespaltenen Gesellschaft leben wollen. Das Interesse an einer Chancengleichheit in der Gesellschaft ist eigentlich viel höher. Denn wem sollte es wirklich nutzen, dass wir in so eine gespaltene Gesellschaft hineingeraten? Das ergibt Folgeprobleme für die Gesamtgesellschaft!
Welche denn?
Nehmen Sie das Beispiel eines Stadtteils, der komplett in Armut abrutscht: Das passiert nur sehr langsam. Wenn Sie das wieder umkehren wollen, dann müssen Sie unglaubliche Ressourcen aufwenden, um diese Entwicklung wieder rückgängig machen zu können. Wir wissen auch aus der ökonomischen Forschung, je frühzeitiger wir intervenieren, umso weniger Ressourcen müssen wir im Vergleich aufbringen. Wenn Sie spät an einem prekären Lebensverlauf noch was ändern wollen, müssen Sie viel mehr investieren, als wenn Sie das frühzeitig tun. Die Folgekosten einer Verfestigung von Armut und einer Verhärtung von sozialen Gegensätzen werden immer größer. Und daran kann am Ende eigentlich niemand ein Interesse haben.
Aber dennoch wird Armut ja sogar sanktioniert, wie zum Beispiel bei Hartz IV. Sollte man die Sanktionen abschaffen?
Ich halte das für eine richtige Forderung. Was wir jetzt erlebt haben, seit der Einführung der Agendapolitik, ging einher mit einem sehr starken Generalverdacht von Sozialstaatsmissbrauch. Das hat sich schon Jahrzehnte davor aufgebaut. Ich glaube, dass das nicht angemessen ist. Wir haben wenig verlässliche Daten über das Ausmaß von Sozialstaatsmissbrauch, aber alles, was wir wissen, deutet darauf hin, dass es eine sehr kleine Gruppe ist. Natürlich wirken Sanktionen und scharfe Bedarfskontrollen – aber man muss sich fragen: Was ist der Preis, den man zahlt? Der Preis ist, dass man Menschen verdächtigt, die unverschuldet in Armut geraten sind: Dass die nicht genug tun, um in Arbeit zu kommen und Arbeit zu suchen. Dass sie sich selbst zu wenig anstrengen. Dieser Generalverdacht führt zu einer Vergiftung des sozialen Klimas. Die Mehrheit der Bedürftigen versucht, in Arbeit zu kommen.
Laut Bundesregierung geht es dem Land blendend. Wie passt das zur Kinderarmut?
Die Lage könnte eigentlich dazu beitragen, dass man Kinderarmut wieder stärker bekämpft. Wir müssen das Beitragssystem reformieren und neu gestalten oder man muss eben mehr über Steuergelder intervenieren. Mehr investieren in soziale Infrastrukturprogramme, um Armut nachhaltig zu bekämpfen. Das beginnt bei den Regelsätzen, das betrifft insbesondere auch den Bildungsbereich. Denn wir sehen, dass sich die Bildungschancen der unteren Bevölkerungsgruppen nicht verbessern. Im Gegenteil: Wir sehen, dass in der oberen Schicht enorm in Bildung investiert wird. Der Bildungswettbewerb intensiviert sich, aber untere Bevölkerungsgruppen haben einfach keine Chance, in einem solchen Wettbewerb mitzuhalten, wenn man nicht intensiv investiert. Man muss die Startchancen dieser Gruppen gezielt verbessern.
Das klingt nach einer relativ chancenlosen Unterschicht …
Ja, das ist leider ein Erbe einer nicht gesteuerten Deindustrialisierung. Wir hatten in den klassischen Großindustrien sozial abgesicherte Arbeitsplätze auch für gering qualifizierte Menschen. Harte Arbeit, die aber auch ein gesichertes Einkommen gebracht hatte. Mit der Schließung und der massiven Abwanderung dieser Arbeitsplätze haben wir ein Strukturproblem bekommen – im Ruhrgebiet etwa oder auch in Ostdeutschland, wo diese Deindustrialisierung ja als Schocktherapie durchgezogen wurde. Wir haben diesen Übergang zu wenig gestaltet. Die Leute, die heute Pakete austragen, bilden ein Dienstleistungsproletariat. Diese Berufe können in der Lohnentwicklung nicht Schritt halten mit den Löhnen hochqualifizierter Jobs. Dieses Problem hat zu einer neuen sozialen Spaltung geführt.
Wenn Sie einen Blick in die Kristallkugel werfen: Wie sieht die Republik in 20 Jahren aus?
Über solche Fragen denken wir eigentlich viel zu wenig nach. Ich kann mir unterschiedliche Szenarien vorstellen. Ich glaube nicht, dass es gelingen wird, die Schieflagen, die wir uns in den letzten Jahrzehnten eingebrockt haben, wirklich nachhaltig zu lösen. Man könnte aus der Schieflage wieder herauskommen. Dafür bedarf es einer großen gemeinsamen Reformanstrengung, die nicht unmöglich ist. Wahrscheinlicher ist aber, dass es ein Weiterwursteln wie bisher gibt. Dass man versucht, die schlimmsten Dinge zu verhindern. Dass man den Mut doch nicht findet, Reformen durchzuführen. Wir sehen im Moment keine überzeugenden Entwicklungsmodelle, die nachhaltig soziale Ungleichheiten verhindern. Dabei brauchen wir die ganz dringend.