Seit Jahrtausenden gilt die Eigenharnbehandlung als hilfreiches Mittel in der Kosmetik wie in der Heilkunde. Ihre Anhänger finden, sie habe vielerlei positive Wirkung. Wissenschaftliche Belege fehlen. Nur eins ist sicher: Der erste Schritt zur Urin-Anwendung fällt schwer.
Wer sich aus Angst in die Hosen pinkelt, sollte sein Wasser auffangen und trinken, sagt ein chinesisches Sprichwort. Die Angst werde vergehen und Mut ihn stärken, schließlich sei der gelbe Saft der reinste Körperstoff. Es heißt, wer zu seinem eigenen Urin stehe, könne sich auch selbst gut annehmen. Das lehrte bereits Hippokrates mit der Urintherapie. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Soldaten befohlen, ihren eigenen Urin sogar zu trinken, damit sie auf langen Wegstrecken nicht verdursten. Auch in Seenot geratene Segler sollen sich so vor dem Verdursten und gegen aufbrechende Sonnenekzeme gerettet haben.
Die alten Ägypter schworen auf Harnverbände bei Augenleiden und anderen Beschwerden. Genauso nutzten und nutzen die Ärzte der Traditionellen Chinesischen Medizin und der ayurvedischen Heilweise seit 3.000 Jahren den körpereigenen Saft. Seit Jahrtausenden hat man ihn verwendet, um äußere Verletzungen mit den im Urin enthaltenen Antikörpern zu behandeln. Paracelsus benutzte Urin als Diagnosehilfe. Schon zu seiner Zeit, im Mittelalter, war es üblich, ein kleines verschlossenes Glas Morgenurin zum Arzt mitzubringen. Dabei kontrollierte man den Geruch, betrachtete den Urin, beroch ihn und prüfte den Geschmack. Man achtete auf die verschiedenen Farbabstufungen, auf den Flüssigkeitsgrad, auf eventuelle Ablagerungen und ungelöste Harnbestandteile.
Urin, die goldene Fontäne, sei ein besonderer Saft, meint die Heilpraktikerin und Therapeutin der „Alten Harnschau" Irene Richter-Stolz. Beim Beobachten des Urins über mehrere Tage könne man erkennen, welche Körperorgane geschwächt sind. „Der Urin ist im Glas von oben unterteilt in den Kopfbereich und Oberkörper, den Bauchorganen vom Magen bis zum Darm, in Nieren, Blase und Unterleib. Extremitäten und Knochen sind nicht zu erkennen, doch Arthrosen und rheumatische Erkrankungen zeigen ganz spezifische Phänomene." Irene Richter-Stolz beschreibt den gesunden Urin strohfarben und klarsichtig, ohne irgendwelche Schwebstoffe. „Diese würden sich nur dort zeigen, wo eine Belastung im Körper vorliege. „Der Urin ist zwischen nachts 3.00 und morgens 8.00 Uhr voll verstoffwechselt und dadurch der ergiebigste Urin zum Trinken, zum Einreiben in den Körper und für die „Alte Harnschau". In dieser Zeit zeige er auch körperliche und seelische Befindlichkeiten, zum Beispiel depressive Verstimmtheit oder Schlafgewohnheiten des Patienten.
Alles für die Schönheit
Was für die einen mit Ekel verbunden ist, ein „Bäh" oder „Igitt" hervorruft, bedeutet für andere eine wirkungsvolle und zudem noch kostenlose Methode, um mancherlei Leiden zu lindern. Ein Hauptindikationsgebiet für die Urintherapie seien sämtliche Hautprobleme, schwere Störungen wie Neurodermitis oder Akne und Schuppenflechten „Handelt es sich um Abschürfungen, Risse, Blasen, kleine Verbrennungen, sollte bei jedem Wasserlassen mit frischem Urin betupft und eingerieben werden, empfiehlt die Heilpraktikerin Dr. Flora Peschek-Böhmer in ihrem Buch „Urintherapie – Ein Tabu wird gebrochen". Sollten sich Hautempfindlichkeiten durch Pickel oder juckende Stellen mit Unebenheiten immer wieder zeigen, so könne zusätzlich der morgendliche Urin getrunken werden. Besonders in der Winterzeit, der Trockene-Haut-Zeit schaffen Urin „Körperlotionen" bei ausgelaugter und strapazierter Haut Abhilfe. Präventiv stehe der Urin für eine gepflegte, strahlende und weiche, glatte Haut. Sie erscheine klarer und gesünder, die Säure und der Harnstoff im Urin mache die Haut geschmeidig.
Man muss sein Schönheitsgeheimnis ja nicht gleich jedem verraten, wenn zu vermuten ist, dass die Bewunderer angeekelt die Nase rümpfen. Allein bei dem Gedanken an das Trinken des eigenen Urins schüttelt es die meisten Menschen. Dabei zeigt die mehr als 2000-jährige Erfahrung der indischen Medizin, in der die Eigenurin-Behandlung eine wichtige Rolle spielt, dass zur Umstimmung einer fehlgeleiteten Immunabwehr die Urinbehandlung wichtige Dienste leistet. So wurden beispielsweise äußere Verletzungen mit den im Urin enthaltenen Antikörpern behandelt. Es wird angenommen, dass das Sekret steril, antimikrobiell und entzündungshemmend sei.
Urin enthalte viele Mineralstoffe wie Salze, Hormone, Antikörper und Enzyme, von denen einige äußerst wohltuend für die Haut sein können.
Harnstoff stelle den sauren Haut-Schutzmantel in den Gebieten wieder her, wo dieser nicht durch den Schweiß entstehen kann, zum Beispiel bei Hornhaut. Führt man der Haut Harnstoff zu, verschwinden Sprödigkeit, Rauheit, Rötungen und Juckreiz. Wem Bäder zu umständlich oder nicht möglich seien, könne auch Packungen, Kompressen, Wickel tragen. Und je länger der Urin nach einer Waschung aufgetragen bleibt, desto größer sei die Wirkung.
Mythos oder Wahrheit
Die Eigenurintherapie ist inzwischen eine der Methoden alternativen Medizin, wenn auch noch immer umstritten. Aber heilt der Harn wirklich? Was ist dran am Wundermittel Eigenurin?
Ingeborg Allmann litt lange Zeit an Zöliakie, einer Glutenunverträglichkeit. „Mein Darm nahm nichts mehr auf. Ich hatte unentwegt Durchfall. Mein Körper war ruiniert, ihm fehlten die Vitalstoffe. Ich wog gerade noch 40 Kilo." Die Apothekerin wandte sich an den naturheilkundlichen Arzt Johann Abele, der ihr empfahl, ihren eigenen Urin zu trinken. „Als Apothekerin war ich zunächst irritiert, doch bald schon fasziniert, als ich erlebte, wie einfach der Heilungsprozess war. Der Darm beruhigte sich bald, und ich kam wieder auf die Beine. Für mich persönlich war die Urin Eigenbehandlung damals lebensrettend. Sie begleitet mich heute noch mit 80 Jahren durch mein Leben."
Urin sei das nahezu sterile Ultrafiltrat des Blutes. Er bestehe zu 95 Prozent aus Wasser. Der Harn verfüge über Hormone, Mineralien und körpereigene keimtötende Substanzen, die einen therapeutischen Effekt hätten. Eiweiß-, Mineralstoff- und Harnstoffgehalt sollen somit die körpereigenen Abwehrstoffe aktivieren. Besonders auf Infektionskrankheiten könne der Körper schneller reagieren und genesen.
Widerwillen überwinden
Jedes Baby trinkt seinen Urin im Fruchtwasser. Doch rasch wird er zum Tabu trotz positiver Eigenschaften in Haushalt und Heilkunde. Der viel zitierte „angeborene Ekel" ist eher ein aufgedrückter und läßt sich überwinden.
Ingeborg Allmann empfiehlt, am Anfang den Urin mit Wasser oder Tee zu verdünnen und sich dann langsam heranzutasten, bis man ihn später sogar pur trinken kann. „Urintherapie kann sehr viel verbessern. Aber allein hilft sie nicht. Unbedingt sollte man aber auch sehr auf seine Ernährung achten und sich testen lassen, was man essen darf und was nicht. Viel Obst und Gemüse und wenig Fleisch und Kaffee seien angeraten." Dadurch bekommt der Urin einen neutralen Geruch und Geschmack. Trägt man Urin auf die Haut auf, riecht er normalerweise nicht, da er schnell in den Körper eindringt.
Benutzen sollte man den Urin unmittelbar nach dem Pipi, und zwar den Mittelstrahlurin, also das zweite Drittel pro Wasserlassen. Dann sind eventuell enthaltene Bakterien schon zum größten Teil abgeflossen. Den Rest zerstört bei der innerlichen Anwendung die Magensäure.
Die Wege, auf denen der ausgeschiedene Urin wieder Eingang in den Körper findet, sind vielseitig: Man kann ihn auf den Körper einreiben, als „besonderen Saft" trinken, sich ihn injizieren oder einträufeln.
Wirksamkeit umstritten
Wissenschaftlich ist die Wirksamkeit der Urintherapie nicht belegt. Es sei also weiterhin schwierig, die genauen Auswirkungen zu messen: Wer es jedoch einmal mit Eigenurin konsequent versucht hat, schwört darauf. „Urin leitet sämtliche Giftstoffe aus, den ganzen Müll den der Körper nicht verarbeiten kann wie unzureichend verstoffwechselte Lebensmittel oder Medikamenrückstände. So kann der Darm alles ausfiltern", meint Ingeborg Allmann.
Generell ist Vorsicht bei der Anwendung geboten. Wer beispielsweise unter einer Harnwegsinfektion oder Nierenbeckenentzündung leidet und dessen Urin mit Bakterien verunreinigt ist, sollte seinen Urin keinesfalls in irgendwelche Wunden träufeln. Damit würden Sie Entzündungen der verletzten Hautpartien provozieren. Auch wer zu Lebererkrankungen, Diabetes oder Bluthochdruck neigt oder akute Erkrankungen und Infektionen mit hohem Fieber hat, sollte verzichten. Nur bei einem gesunden Menschen ist der Urin keimfrei. Ein therapeutischer Einsatz ist dann gefahrlos möglich.