Vom Roadmovie über den Versuch der Vergangenheitsbewältigung bis hin zum satirisch eingefärbten Theaterstück – gerade hat sich Tschechien als Gastland auf der Buchmesse Leipzig präsentiert. Mit Dutzenden Autoren, deren Themen unterschiedlicher kaum sein könnten.

Tschechische Literatur – da kommt einem Vaclav Havel in den Sinn, Pavel Kohout und natürlich die Geschichte von Tomas und Teresa, die Milan Kundera in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" erzählt. Geschichten, die vom Krieg, von Exil und Flucht handeln und vom Prager Frühling 1968. Viele dieser Bücher sind nur im Westen erschienen und gelesen worden.
Heute – 30 Jahre nach der Samtenen Revolution von 1989 – ist eine neue, junge Generation von Schriftstellern am Start. 1968 kennen sie nur aus Geschichtsbüchern, auch 1989 waren die meisten noch zu jung. Was sind ihre Themen? 55 Autoren waren auf der Leipziger Buchmesse aus dem Gastland Tschechien vertreten, 70 Werke lagen in neuen Übersetzungen vor. Ein gemeinsamer Nenner ist nicht leicht zu finden. Vielleicht das Gefühl, nicht mehr zum Osten zu gehören, sondern wieder Teil Mitteleuropas zu sein.

Da sind zum einen die Zornigen, wie die 1968 geborene Radka Denemarková mit ihrem Roman „Ein Beitrag zur Geschichte der Freude". „Von Zeit zu Zeit kommt eine Periode, in der die Gesellschaft grob wird", sagt sie im Interview mit der Messezeitschrift „Ahoi". „Es hängt damit zusammen, welche Personen die einzelnen Länder führen. Diese bestimmen das System, in dem wir leben und die Werte, die wir betonen." Vom Traum, nur Romane zu schreiben, hat sie sich verabschiedet. „In den letzten Jahren habe ich mehr essayistische Texte geschrieben, Reden gehalten, ich wollte Gegenstimme sein gegen die Masse."
Marek Sindelka (geboren 1984) stößt ins gleiche Horn. Er verteidigt die Europäische Union. „Ein Tscheche, welcher gegen die EU wettert – als Teil einer Nation, die von der Union ungefähr 700 Milliarden Kronen mehr bekommt als sie eingezahlt hat – der ist eine recht lächerliche Figur", sagt er in „Ahoi". Mit seinem Buch „Materialermüdung" reagiert er auf die Flüchtlingskrise, die nach seiner Ansicht in Tschechien hoffnungslos dramatisiert wurde. Die Angst vor Überfremdung sei von der rechtsextremen SDP unter Führung von Tomio Okamura geschürt worden, einem tschechisch-japanischen Rassisten, der sich nicht davon irritieren lässt, dass er selbst ein Beispiel für Multikulti ist.

Eine andere literarische Richtung vertritt Viktorie Hanišová (geboren 1980). Sie schreibt nach eigener Aussage häufig über „Familienkrisen und die (Un)möglichkeit, Kindheitstraumata zu verarbeiten." Aber in „Anezka"( deutsch: „Agnes", 2015) greift sie das Phänomen Fremdenfeindlichkeit auf. Im Mittelpunkt steht eine Mutter, die ein Roma-Kind adoptiert, sich aber nicht mit der Herkunft ihrer Adoptivtochter abfinden kann. Die Bevölkerungsgruppe der ethnischen Roma wird in Tschechien auf 250.000 bis 300.000 Personen geschätzt. Sie sind immer noch gesellschaftlich benachteiligt und zum Teil rassistischen Angriffen ausgesetzt.

Mitteleuropa und seine Geschichte spielt die Hauptrolle im gerade erschienenen Roman „Winterbergs letzte Reise" von Jaroslav Rudiš (geboren 1972). Der Protagonist, Wenzel Winterberg, ist ein knapp hundertjähriger pensionierter Straßenbahnschaffner aus Berlin. Er stammt aus Reichenberg (Liberec) in Böhmen, ist vertriebener Sudetendeutscher. Winterberg besitzt einen Baedeker aus dem Jahre 1913, aus der damals noch halbwegs intakten Donau-Monarchie. Jan Kraus, ein Altenpfleger, ebenfalls ein Böhme, bricht mit ihm zu seiner letzten Reise auf. Die beginnt in Königgrätz, wo 1866 die Preußen die Österreicher schlugen, führt über Prag, Wien und Budapest bis nach Sarajewo. Von dort hatte Winterberg die letzte Postkarte seiner Geliebten Lenka bekommen.

Böhmen liegt in Mitteleuropa
Eine Art historisches Roadmovie hat auch Jáchym Topol mit seinem neuesten Roman „Ein empfindsamer Mensch" vorgelegt. Er schickt eine Schauspielerfamilie auf eine wilde Reise im Wohnmobil durch das Europa in Zeiten der Flüchtlingsströme, als die Grenzen hochgezogen wurden. Die Shakespeare-Darsteller werden überall verjagt, nur in Ungarn dürfen sie auftreten. Absurd und zugleich tiefsinnig sind die zahllosen Abenteuer, die seine Helden bis nach Tschechien führen. Der Hauptteil des Romans spielt dann an der Sazava, einem Nebenfluss der Moldau, etwa eine halbe Stunde südlich von Prag und doch in der tiefsten Provinz, wo die „vergessenen Menschen" leben.
Topol, 1962 in Prag geboren, hat schon zu kommunistischen Zeiten veröffentlicht. Als 16-Jähriger unterzeichnete er die Charta ’77. 1985 gründete er das Magazin „Revolver Revue", seine Zeit als Wehrpflichtiger verbrachte er mit anderen Intellektuellen in der Irrenanstalt, später arbeitete er als Heizer und Lagerarbeiter. 1988 erschien im Samizdat (der Untergrundbibliothek) sein erster Gedichtband „Ich liebe Dich bis zum Irrsinn". Seinen Durchbruch hatte er 1994 mit dem Roman „Die Schwester". Auf die Frage, ob er ein ost- oder westeuropäischer Schriftsteller sei, antwortet Topol: „In Ulan Bator oder Kiew werde ich als westeuropäischer Schriftsteller angekündigt. Trete ich in Paris oder München auf, sieht man mich immer noch als echten Osteuropäer. Ich finde es lustig, dass ich dadurch eine Art Bastard bin, der selber nicht genau weiß, zu welchem Teil der Welt er gehört."

Auf eine andere Art nähert sich Katerina Tucková (geboren 1980) der Geschichte. Ihr Roman „Gerta. Das deutsche Mädchen" setzt Ende der 1930er-Jahre ein. Noch bevor Hitler 1939 den „Anschluss" weiterer Gebiete der Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland proklamiert, vertreiben die Deutschen die Tschechen aus den Ämtern, unterdrücken sie auf allen Gebieten. Nach Kriegsende wiederum werden Millionen Deutsche aufgrund der Beneš-Dekrete zu Staatsfeinden erklärt und aus ihrer Heimat vertrieben. Ein kleiner Teil, 250.000 Menschen, durfte als Zwangsarbeiter bleiben – zu ihnen gehört Gerta, die eine tschechische Mutter aber einen deutschen Vater hat. Das sensible Thema Vertreibung war in Tschechien jahrzehntelang tabu.
Und dann gibt es natürlich noch die Satiriker mit schwarzem Humor wie David Zabransky (Jahrgang 1977) oder den 1970 geborenen David Drabek. Letzterer porträtiert in seiner Groteske „Einsame Spitze" eine erfolgreiche tschechische Kugelstoßerin, die in den 1980er-Jahren Medaillen für das sozialistische Vaterland gewann. Das Theaterstück ist wie ein Radiogespräch inszeniert, es gehört zu der Anthologie „Von Masochisten und Mamma-Guerillas" zu der auch David Zabransky beigetragen hat. Dieser beschreibt in seinem jüngsten Buch „Diesseits der Alpen" (2017) ein tschechisch-deutsches Paar, das sich vor lauter Angst hyperkorrekt überall anpassen möchte.
In all diesen Büchern lebt die Erzähltradition eines Landes weiter, das „Pan Tau" erfunden hat und den „Kleinen Maulwurf", in dem der „Brave Soldat Schwejk" lebte und Kafka „Die Verwandlung" schrieb. Die Büchergilde Gutenberg hat jetzt ein anderes Werk neu herausgebracht, das auch in dieser Tradition steht, grotesk und bitterernst: Karels Čapeks „Der Krieg mit den Molchen". Die Utopie, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, handelt von sprachbegabten Riesenmolchen, die als Arbeitskräfte missbraucht gegen ihre Ausbeuter rebellieren. Eine weitere Facette einer unglaublich lebendigen Literatur, die es bei uns weiter zu entdecken gilt. Nach dem Motto: Czech it out!