Nicht alles, was Zensur zu sein scheint, ist es auch. Dennoch muss es Grenzen geben, sagt Literaturwissenschaftlerin Nikola Roßbach – möglichst einen Mittelweg zwischen Verboten und Nullverantwortungskultur.
Fau Roßbach, die Vorsitzende der CDU beklagt „Meinungsmache" im Internet. Sie denkt nun über eine Regulierung von Influencern nach. Im Netz ist der Aufschrei natürlich groß, so manche stellen sich aber hinter Annegret Kramp-Karrenbauer. Was meinen Sie: Wäre das denn Zensur?
Das kommt darauf an, wie diese Regulierung gedacht ist. Verbot, Löschung oder Blockade unerwünschter, aber gesetzeskonformer Äußerungen geht natürlich überhaupt nicht. Das wäre auf jeden Fall ein zensuranaloger Vorgang, wenn auch keine staatliche Präventivzensur. Parteikritik ist nun einmal legitim, auch digital. Wenn man sie nicht teilt, muss man debattieren, sie zu widerlegen versuchen.
Aber?
Sicher kann man sich Sorgen machen darüber, dass ein Breitenmedium wie das Internet seine User und Userinnen mit Informationen versorgt, die massenhaft ungeprüft, ohne journalistische Sorgfaltskontrolle, herumwabern. Soziale Netzwerke wie Facebook versorgen Milliarden Menschen monopolartig mit Informationen, halten sie in unsichtbaren Filterblasen, in kommunikativen Wohlfühlzonen – ohne dass ein Kodex zur wahrhaftigen Berichterstattung gilt, so wie das die klassischen Printmedien seit dem 18. Jahrhundert erarbeitet hatten. Das ist eine große Herausforderung für unsere Zeit. Die Antwort kann nur lauten: Medienpädagogik, Medienaufklärung, kritisches Medienbewusstsein, eventuell Selbstverpflichtungslabels der Provider. Aber bestimmt nicht Zensur.
Soll denn alles gesagt werden – und gesagt werden dürfen?
Das Grundgesetz ist hier eindeutig: Ja, alles darf gesagt werden. Eingeschränkt wird dieses Recht auf Meinungsfreiheit nur durch die persönliche Ehre des anderen, den Jugendschutz und die allgemeinen Gesetze. Wir haben nun mal keine Anarchie, sondern sind qua Gesetz geschützt, zum Beispiel eben auch vor sprachlicher Gewalt. Das ist auch gut so. Davon zu trennen sind aber die gesellschaftlichen Sagbarkeitsgrenzen, über die heutzutage viel diskutiert wird. Das ist eine Debatte über Werte und Moral: Wie wichtig sind uns Wertschätzung, Respekt, Antidiskriminierung? Wichtige Fragen, denen allerdings mit einem hysterischen Geschrei nach Verboten nicht angemessen zu begegnen ist. Und wenn bei jeder Lenkung einer öffentlichen Debatte ‚Zensur‘ geschrien wird, ist das natürlich ein Missverständnis – oder ein bewusster Missbrauch des Wortes.
Findet Zensur in Deutschland wirklich nicht statt? Was ist mit Hakenkreuzen und Volksverhetzung?
Das sind verbotene Symbole oder Aussagen, die unter die allgemeinen Gesetze fallen, Volksverhetzung zum Beispiel unter Paragraf 130 Strafgesetzbuch. Wer sich nicht an Gesetze hält, wird mit den Instrumenten des Rechtsstaates – Anklage, Gerichtsprozess, Verurteilung und Bestrafung – konfrontiert. Zensur ist dagegen kein rechtsstaatliches Instrument. Sie funktioniert im Voraus. Wir sollten mit dem Begriff vorsichtig umgehen.
Galt Zensur früher eigentlich immer als böse?
Nein, gar nicht. Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert wurde Zensur in Deutschland als wichtig und sinnvoll angesehen, um innen- und außenpolitisch Sicherheit und Frieden zu schaffen. Auch viele Aufklärer waren überzeugt davon, dass es Zensur geben muss, zum Wohle aller. In der Geschichte waren es die Fortschrittlichen genauso wie die Reaktionären, die zur Zensur griffen.
Was ist mit den ganzen subtilen Einschränkungen, wenn man das Gefühl hat, nicht sagen zu können, was man möchte? Ist das nicht auch irgendwie Zensur?
Natürlich nicht. Das ist keine Zensur. Oft wird der Zensurbegriff politisch missbraucht. Dann wird empört gerufen: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!" Natürlich darf man. Es gibt allerdings nicht nur politische Zensurdebatten, sondern auch kulturelle. Da wird heftig um Sagbarkeitsgrenzen gestritten, Stichwort: Political Correctness. Und da gibt es durchaus problematische Entwicklungen, vor allem in Amerika und England. Etwa, wenn an einer amerikanischen Universität von Studierenden gefordert wird, das Wort „violate", also „verletzen", nicht auszusprechen – weil schon das Menschen verletzen könnte. Das ist aus meiner Sicht absurd. Aber Zensur wäre es trotzdem erst dann, wenn ein systematisches, institutionalisiertes Verbot, das mit Sanktionen einherginge, bestehen würde.
Und doch gibt es den Wunsch, zu lenken und zu kanalisieren, weil es vor allem im Netz oft einfach zu wüst hergeht und beleidigt wird, was das Zeug hält.
Ja, es gibt heute wieder Zensursehnsüchte. Aber wir müssen lernen, auch das zu akzeptieren, was uns nicht passt, sofern es nicht gesetzwidrig ist. Auch die nicht-institutionellen Formen der Einschränkung der Meinungsfreiheit sind gefährlich. Hier darf es nicht um Recht gehen, wohl aber um Ethik. Nicht ums Dürfen, sondern ums Sollen. Und diese Debatte ist ebenfalls sehr wichtig! Denn wir haben ja tatsächlich ein ungelöstes Problem mit digitaler Meinungsmache und Manipulation. Anonyme Hassrede kann Individuen, Gruppen, Institutionen schwer beschädigen. Verständigung über Umgangsformen im Netz ist darum ein wichtiges Thema. Wieso ist Hass digital so willkommen? Hate sells (in etwa: „Hass verkauft sich gut", Anm. d. Red.). Vonseiten der großen sozialen Netzwerke würde ich mir Selbstverpflichtungserklärungen gegen Hass, Fake News und Mobbing wünschen und damit eine Abkehr von dem so einträglichen Nullverantwortungsmodell.
Liegen die heutigen Probleme damit aber nicht ganz woanders? Nicht die Zensur ist das Problem, sondern, dass alles gesagt werden kann und das Richtige im Unsinn völlig untergeht?
Wenn alles gesagt werden kann, umfasst das gut und böse, dumm und klug, das war immer schon so. Dass das Internet gerade die anonym geäußerten, demokratiefeindlichen Meinungen, auch mittels Bots, weiterverbreitet, ist ein Problem, auf das Antworten gefunden werden müssen. Ein Präventivverbot der digitalen Meinungsäußerung ist jedenfalls keine Lösung.
Werden uns künftig Algorithmen diktieren, was wir lesen sollen? Also Zensur per Computer?
Auch das ist eine große Herausforderung. Kritischer Medienumgang von Beginn an ist auch hier die Antwort. Als ich mich für mein Zensur-Buch mit rechtsextremistischen Websites befasst habe, war ich plötzlich in die rechte Filterblase eingetreten und bekam ständig nur solche Angebote zugespielt. Ich bin trotzdem kein Nazi geworden.
Eine kritische Analyse der Macht von Algorithmen ist absolut notwendig. Wussten Sie, dass Frauen von Algorithmen schlechter bezahlte Jobs angeboten kriegen, weil Algorithmen lernen, dass Topmanager männliche Vornamen haben? Das ist unfassbar. Hieran wird – zum Beispiel bei uns an der Universität Kassel im Bereich Gender und Informatik – geforscht, und hier muss sich definitiv etwas ändern.