Was ist eigentlich aus dem bedingungslosen Grundeinkommen geworden? Vor einem Jahr war es nicht nur bei der politischen Linken ein Renner. Doch heute finden sich kaum noch Befürworter. Ist eine Utopie in der Realität angekommen, oder verhindern die politischen Erdbeben in Deutschland, dass sich die Parteien damit beschäftigen? Eine Spurensuche.
Jeden Monat wird automatisch ein fixer Eurobetrag auf das Konto überwiesen – vom Staat. Ohne Bedingungen, ohne Prüfung. Damit könnte man, je nach Höhe, vielleicht Miete und Krankenkasse bezahlen. Wer sparsam ist und günstig wohnt, könnte sogar einen guten Teil seines Restlebens finanziell abdecken und muss nicht länger lohnabhängig arbeiten gehen – mithilfe des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE). Die ursprüngliche Idee: Damit könnte jeder Mensch, finanziell ein bisschen gepolstert, seinen Neigungen erfolgreicher nachgehen. Diese könnten künstlerisch sein oder aber auch durch ehrenamtliche Tätigkeiten das Gemeinwohl bereichern. Wer mehr braucht, arbeitet zusätzlich lohnabhängig. Das Grundeinkommen aber stünde jedem Menschen in Deutschland zu, egal ob arm oder reich.
Es war ausgerechnet der Zigaretten-Multimillionär Jan Philipp Reemtsma, der in den 90er-Jahren der Öffentlichkeit in Deutschland den Denkanstoß für solch ein BGE für alle gab. Der studierte Philosoph und Soziologe konnte sich vorstellen, dass die Menschen damit friedlicher miteinander leben würden. Seine Begründung: Menschen ohne Existenzängste könnten sich besser selbst verwirklichen, wären damit automatisch auch ausgeglichener und dies würde sich dann auch auf das Klima der Gesellschaft übertragen.
Die Idee war schon damals nicht wirklich neu. Bereits seit 1976 gibt es ein vergleichbares System im US-Bundesstaat Alaska. Seither erhält jeder Bewohner Alaskas einen monatlichen Betrag vom Staat. Das Geld wird von den Gewinnen der Erdölförderung abgezogen und betrug 2016 im Monat 1.100 Dollar. Zugegeben, die Lebensbedingungen in Alaska sind sehr viel härter als in unseren Breitengraden und wirklich existenzsichernd ist der Betrag nicht. Doch musste sich der US-Bundestaat schon etwas Besonderes einfallen lassen, damit die Bürger nicht wegziehen.
Im fleißigen Deutschland dagegen nahm die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen überhaupt erst nach der Jahrtausendwende an Fahrt auf. Ihr Ursprung war die Umsetzung der Agenda 2010 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. „Fordern und fördern" war seine neue Parole, die Sozialhilfe und das Arbeitslosengeld II wurden zu Hartz IV zusammengelegt.
Ohne Existenzängste leben
Nachdem sich die Lohnunterschiede in Deutschland durch die fortschreitende Auflösung der tarifgebundenen Beschäftigungen weiter verschärften, erhielt das Grundeinkommen weiter Auftrieb. Leiharbeit und Zeitarbeitsfirmen taten ihr Übriges. Der CDU-Politiker Dieter Althaus entwickelte bereits 2007 einen Entwurf eines solidarischen Bürgergelds, den er bis heute verteidigt. Ansonsten herrscht bis heute aus Richtung der CDU in Sachen bedingungsloses Grundeinkommen Funkstille. Die Linkspartei griff den Gedanken zum Grundeinkommen für alle ohne jegliche Bedingungen auf. Fördern ja, aber bitte nicht fordern. Linke-Chefin Katja Kipping ist bis heute die prominenteste Unterstützerin für ein bedingungsloses Grundeinkommen in ihrer Partei.
Nicht nur weite Teile der Linkspartei sahen darin zukünftig ihr Heil, auch in der SPD wurde das bedingungslose Grundeinkommen debattiert. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller war diesbezüglich im Sommer 2018 plötzlich bei der SPD der Frontmann, allerdings für ein solidarisches Grundeinkommen. Damit solle „das Hartz-IV-System überwunden werden", so Müller. Der politische Paukenschlag ließ dann, aus unerwarteter Richtung, nicht lang auf sich warten. Der neue Shootingstar der Grünen, Robert Habeck, sprach sich plötzlich ebenfalls für ein Grundeinkommen aus. „Die Zeit ist über Hartz IV hinweggegangen. Wir brauchen ein neues Garantie-Sicherungssystem, das Armut verhindert, Schutz bietet und Anreize für Arbeit schafft", so Habeck, ebenfalls im Sommer vor einem Jahr. In den Führungszirkeln von Bündnis 90/Die Grünen war man, gelinde gesagt, entsetzt. Erstens drohte plötzlich eine parteiinterne Debatte, warum man überhaupt Hartz IV 2003 politisch mitgetragen hat. Hartz IV ist immerhin ein rot-grünes Produkt. Doch diese Verantwortung hatte man ja bislang ganz prima beim damaligen Koalitionspartner SPD abgeladen, und da sollte sie auch bitte bleiben. Obendrein sprach sich nun der Co-Vorsitzende für eine nicht näher erläuterte Variante eines Grundeinkommens in einer Partei aus, die mittlerweile meist Besserverdienende zu ihrem Wählerklientel zählt.
Das konnte für Habeck nicht gut gehen. Von FORUM darauf bei einem Grünen-Parteikonvent im Frühjahr dieses Jahres in Berlin angesprochen, machte Habeck umgehend einen Rückzieher. Dazu bitte kein Interview. Weitere Nachfragen blieben unerwünscht, da sich die Frage danach derzeit bei den Grünen gar nicht stelle, hieß es. Klimaschutz ist das beherrschende Thema, das Wählerstimmen bringt, nicht Sozialpolitik in ihren Niederungen.
Ähnlich hat sich die Stimmung auch in der Bundestagsfraktion der Linkspartei gewandelt. „In der Fraktion gab es noch nie viele Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens", so ein Fraktionsmitarbeiter nun auf FORUM-Nachfrage. Auch hier ist man auf eine weitere Debatte darüber nicht wirklich erpicht. Kein Wunder. Die Fraktion der Linken ist gerade dabei sich umzustrukturieren. Noch-Fraktionschefin Sarah Wagenknecht wollte längst aufhören. Doch da man sich offenbar auf keine Nachfolgerin einigen konnte, muss sie nun noch bis zum Herbst weitermachen. Jetzt noch eine solch emotional geladene Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen? Nein danke. Fraktionschef Dietmar Bartsch winkt da lieber gleich ab. Einzig Parteichefin Katja Kipping hält mit ihrer Sympathie dafür weiter nicht hinterm Berg – die einsame Ruferin in der Wüste.
Parteien ducken sich weg
Auch bei der SPD ist es um das Grundeinkommen für alle sehr ruhig geworden. Ein Interview für das bedingungslose Grundeinkommen, drei Tage vor dem überraschenden Nahles-Rücktritt vereinbart, wurde danach abgesagt. Lieber abwarten, wohin sich die Partei politisch in den kommenden Monaten entwickeln wird, wird gemunkelt. Auch im Willy-Brandt-Haus hat derzeit niemand wirklich Lust, sich mit einer Sozialdebatte den Mund zu verbrennen und mögliche Karrierechancen vorzeitig zu beerdigen. Die Demokratische Linke 21 (DL21), also jene Gruppierung in der SPD, die den demokratischen Sozialismus in der SPD vorantreiben will, ist auf jeden Fall vom ursprünglichen Modell abgerückt. Dafür ist man nun vom Modell des „solidarischen Grundeinkommens" der Berliner SPD begeistert, so Myriam Reidel von der DL21 im FORUM-Gespräch. Doch das hat mit dem bedingungslosen Grundeinkommen nicht mehr viel zu tun, ist praktisch nur eine uminterpretierte Fortsetzung des Hartz-IV-Systems: Langzeitarbeitslose sollen solidarische Arbeit an der Stadt für den Mindestlohn leisten, der vom Staat bezahlt wird.
Berlins SPD-Chef und Bürgermeister Michael Müller lässt sich aber nicht beirren, er will nun diesbezüglich Vorreiter in seiner Partei sein und auch der Linken zeigen, wie Armutsbekämpfung aussehen kann. Bereits in diesem Sommer wird in Berlin das Pilotprojekt „solidarisches Grundeinkommen" eingeführt, Kostenpunkt 200 Millionen Euro aus dem Landeshaushalt. 1.000 Berliner sollen schrittweise in den Genuss der monatlichen Apanage des Bürgermeisters kommen.
Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie ein bis drei Jahre erwerbslos sind und sich zukünftig in den Landesbetrieben oder bei freien Trägern beschäftigen lassen. Dort müssen sie dann „gemeinwohlorientierte Aufgaben im Rahmen der erweiterten Daseinsvorsorge" wahrnehmen. Das sind Jobs wie Kitahelfer, Quartiersläufer, City- oder Obdachlosen-Lotsen. Nicht nur in der SPD fragt man sich, was an diesem Grundeinkommen nun solidarisch ist. Auf keinen Fall überwinde man damit Hartz IV, kritisiert die Linke. „Alter Wein in neuen Schläuchen", so Pascal Meiser, Bundestagsabgeordneter von den Linken aus Berlin-Kreuzberg. „Es ist eine klassische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme aus den 90er-Jahren unter neuem Namen". Und auf keinen Fall ist dieses Einkommen bedingungslos, das Label „Grundeinkommen" letztlich nur ein cleverer PR-Gag.