Das bedingungslose Grundeinkommen: Sozialutopie oder zukunftsweisender Umbau des Sozialsystems? Den Stand der Diskussion kennt niemand besser als Sascha Liebermann. Er ist Professor für Soziologie und gilt als einer der profiliertesten BGE-Forscher in Deutschland.
Wer sich heutzutage mit dem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) befasst, hat es nicht mehr mit einem abseitigen Vorschlag zu tun. Mittlerweile gehört er zum festen Bestand sozialpolitischer Alternativen, nachdem er über die Jahre mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit erhalten hat. Grund dafür ist sicher zum einen die Kontinuität der Diskussion über einen langen Zeitraum. Seit ihrem Beginn um die Jahre 2004 bis 2005, nachdem in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts schon einmal von einem garantierten Grundeinkommen die Rede war, sind die befürwortenden Begründungen ähnlich geblieben, die Kritik indes ebenso. Die Auseinandersetzung leidet unter einer gewissen Engführung, obwohl die Auswirkungen eines BGE alle Lebensbereiche beträfen. Wie genau sie aussehen könnte, hinge von der Ausgestaltung ab, die Variation der Vorschläge diesbezüglich ist groß.
Digitalisierung
Besonders in den letzten Jahren dominierte die Frage, welche Folgen die Digitalisierung auf die Arbeitswelt haben könnte – es ist nur von Erwerbsarbeit die Rede –, die Diskussion um ein BGE. Während die einen es für notwendig erachten, um auf eine gewaltige Freisetzung an Personal zu reagieren, beteuern die anderen, dass dieser Fall nicht eintreten werde, da seit der industriellen Revolution Berufe verschwunden und neue entstanden seien. Es handelt sich um eine Wiederkehr der Debatte um ein „Ende der Arbeit". Weder die eine, noch die andere Einschätzung haben Hand und Fuß, denn Verlässliches lässt sich zumindest von der Warte wissenschaftlicher Expertise dazu nicht sagen. Der Dramatisierung steht die Beschwichtigung gegenüber – beide zeigen vor allem, welche Bedeutung Arbeitsplätzen zugeschrieben wird. Für den Vorschlag eines BGE ist etwas anderes entscheidend, er ist ganz unabhängig davon, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt. Sollte eintreten, was manche befürchten, wäre ein BGE gleichwohl eine passende Antwort.
Armut
Ein BGE erlaube es, Armut die Stirn zu bieten, und zwar in anderer, effektiverer Form als heute. Das ist ein weiteres Argument, das häufig anzutreffen ist. In der Tat würde mit einem BGE ein fester Boden eingezogen, der einem nicht unter den Füßen weggezogen werden könnte – anders als bei sanktionsbewehrten Leistungen heute. Wenn „verdeckte Armut", also die Nicht-Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen trotz Rechtsanspruches darauf, eine Reaktion auf ihren stigmatisierenden Charakter ist, dann fiele genau dies bei einem BGE weg. Für alle Lebenslagen, in denen bloßer Einkommensmangel der Grund für Armut ist, würde ein BGE direkt helfen. Dort, wo die Gründe dafür woanders liegen, zum Beispiel in der Beeinträchtigung der Wahrnehmung eigener Interessen, im verantwortungsvollen Umgang mit den verfügbaren Mitteln, reichte ein BGE nicht aus, bedarfsgeprüfte Leistungen und Formen von Beratung wären weiterhin nötig. Solche Leistungen stünden jedoch nach Einführung eines BGE auf einer anderen normativen Basis. Denn ihr Ziel, im Unterschied zu heute, wäre nicht mehr, fehlendes Erwerbseinkommen auszugleichen und in den Arbeitsmarkt zurückzuführen. Mit einem BGE gäbe es Stigmatisierungseffekte nicht mehr, die heute dazugehören. Das eröffnet eine interessante Perspektive für Dienste in diesem Zusammenhang wie zum Beispiel die soziale Arbeit.
Arbeitsplätze
Wird über den „Wirtschaftsstandort" Deutschland, über Leistungsbereitschaft und Leistungsentstehung diskutiert, wird heute meist über Arbeitsplätze gesprochen. Erwerbsteilnahme erscheint als ethische Verpflichtung, das Schaffen von Arbeitsplätzen ebenso. Deswegen wird immer wieder eingewandt, ein BGE sei gegen Leistungsgerechtigkeit, weil die einen für die anderen bezahlen. Bis ins Absurde wird diese Vorstellung getrieben, wenn „fast jeder Arbeitsplatz besser als keiner" sei, als sei es egal, ob ein Mitarbeiter Aufgaben gut erledigen kann und sich die Frage der Automatisierung nicht stellte. Selbst Unternehmer und Unternehmensverbandsvertreter argumentieren so, verwandeln auf diese Weise Unternehmen geradezu in Erziehungsanstalten. Ein BGE, so Befürworter, würde in dieser Frage eine Klärung herbeiführen. Entscheidend ist der Leistungsausstoß, ob mit oder ohne menschliche Arbeitskraft, das „Race Against The Machine" kann der Mensch nicht gewinnen, wo Automatisierung vernünftig ist. Leistungsgerecht in anderem Sinne wäre das, wenn Wertschöpfung im Zentrum stünde und die Frage der Einkommensbereitstellung anders gelöst würde. Den festen Boden schafft ein BGE, darüber hinaus gäbe es weiterhin Löhne. So würde ernst gemacht mit dem Subsidiaritätsgedanken, nämlich Autonomie zu fördern, wo möglich, das Leistungsethos würde von der Vorstellung, die Bürger müssten „beschäftigt" werden, befreit. Die Chance, dass persönliches Leistungsprofil auf Aufgabe zueinander passen, würde größer, für das Leistungsgeschehen eine förderliche Entwicklung.
Unbezahlte Arbeit
Lange schon wurde von feministischer Seite zu Recht kritisiert, dass „unbezahlte Arbeit" gerne beansprucht, letztlich aber unter den Teppich gekehrt werde. Daran haben Zeitverwendungsstudien des Statistischen Bundesamtes, die es seit 1992 gibt, wenig bis gar nichts geändert. Sie zeigen, dass das Stundenvolumen pro Jahr, das in unbezahlter Arbeit, also vor allem in Haushaltstätigkeiten, aufgewandt wird, erheblich größer ist als das in Erwerbsarbeit. Dennoch wird so getan, als ob Leistung nur in Erwerbsverhältnissen gilt. Ein BGE wäre, so Befürworter, zwar kein Lohn für diese Tätigkeiten, gleichwohl aber eine Ermöglichungspauschale unabhängig von anderen Einkommensarten. Wegen Kindern länger zu Hause zu bleiben, würde nicht zu einer Erhöhung des Armutsrisikos führen. Eine Gemeinschaft, die ein BGE bereitstellte, würde anerkennen, wie wichtig „unbezahlte Arbeit" ist, statt sie weiterhin stiefmütterlich zu behandeln. Wird stattdessen, um diese Leistungen aufzuwerten, vorgeschlagen, sie in Erwerbsarbeit zu überführen, aus unbezahlter bezahlte Arbeit zu machen, veränderte das ihren Charakter. Die Ausweitung des Erwerbssektors nähme weiter zu, unbezahlte Arbeit würde noch stärker abgewertet.
Bildung, Erziehung und Familie
Auch in dieser Frage sind die Kontroversen scharf. Kritiker befürchten, dass durch ein BGE insbesondere für Kinder und Jugendliche jeglicher „Anreiz" schwinde, die Schule zu besuchen, eine Ausbildung zu machen oder sich gar überhaupt noch dafür zu interessieren, Verantwortung zu übernehmen. Ein BGE falle Kindern und Jugendlichen zu, allenfalls Kinder aus „bildungsnahen Milieus" wären weiter bildungsorientiert. Doch „bildungsfern" ist niemand „von Natur" aus, es muss viel passieren, dass Kinder sich für die Welt, in der sie leben, nicht mehr interessieren, keine Verantwortung übernehmen wollen. Mit einem BGE hat dies gar nichts zu tun, vielmehr mit Eltern, der Schule und der Gemeinschaft, in der sie leben. Ein Blick auf die Sozialpolitik schafft Klarheit. Seit etlichen Jahren verfolgt sie das Ziel, Zeiten außerhäuslicher Betreuung immer weiter auszudehnen, das Betreuungsalter immer weiter abzusenken – weshalb? Damit Eltern erwerbstätig sein können, auch „Wahlfreiheit" genannt. Und Zeit für Familie, Zeit für gemeinsame Erfahrungen, ein Aufwachsen im Schonraum Familie? Das wird zumindest sozialpolitisch betrachtet für nachrangig gehalten. Erwachsene sind schockiert, wenn Jugendliche ihnen sagen „Ich mach auf Hartz IV" und verstehen die Provokation nicht. Wenn Erwerbstätigkeit über allem steht, Ganztagsbetreuung wichtiger scheint als Zeit mit den Eltern, wird alles andere entwertet. Kinder und Jugendliche mit ihren Sorgen und Wünschen werden an den Rand gedrängt. Wen überrascht also die Reaktion? Ein BGE würde hier manches geraderücken, Familien ermöglichen, mehr Zeit miteinander zu verbringen, weil Einkommenserzielung nicht drängt, gerade dort, wo die Einkommen niedrig sind. Bildung wäre etwas, auch wenn sie nicht auf den Arbeitsmarkt vorbereitet, aber auf das Leben, wenn sie Jugendliche darin stärkt, sich auf die Suche zu machen, sie im Suchen zu stärken. Es mag banal klingen, doch: Wer sucht, kann auch finden, wer nicht sucht, findet nichts. Auch für den „Wirtschaftsstandort Deutschland" – so ein Nebeneffekt – wird das zukünftig noch wichtiger werden.
Demokratie
Zuletzt sei noch ein Aspekt genannt, der mehr als das ist, in der Diskussion um ein BGE indes nicht sonderlich viel Beachtung findet. Der Sozialstaat steht nicht für sich, messen lassen muss er sich daran, wie er zur Demokratie passt, ob er ihr in heutiger Form überhaupt angemessen ist. Die Kritiker eines BGE verteidigen den erwerbszentrierten Sozialstaat, weil sie Erwerbstätige über Bürger stellen, auch wenn das nicht beabsichtigt sein mag. Es ist jedoch eine Folge des Sozialstaats heutiger Prägung. In der republikanischen Demokratie, wie sie die durch das Grundgesetz bestimmte freiheitlich-demokratische Grundordnung zum Ausdruck bringt, stehen nicht die Erwerbstätigen im Zentrum, sondern die Bürger. Das Grundgesetz kennt keine Erwerbsobliegenheit. Ein BGE wirft die Frage auf und beantwortet sie zugleich, ob da nicht ein Widerspruch besteht und wie er gelöst werden könnte. Ein zeitgemäßer, also demokratiegemäßer Sozialstaat muss die Bürger ins Zentrum stellen, Autonomie und damit Gemeinwohlbindung stärken. Auf alten Wegen geht das nicht.