Die Deutsche Oper setzt in der neuen Saison auf starke Regie-Handschriften. Los geht es mit Frank Castorf, der Verdis „Die Macht des Schicksals" ins 20. Jahrhundert verlegt.
Die Deutsche Oper ist Berlins Spitzenreiter bei den Besucherzahlen. Rund 244.000 Menschen kamen in der Spielzeit 2018/19 in die Bismarckstraße – deutlich mehr als in die Staatsoper oder in die Komische Oper. Dass bei der Auslastung dennoch Luft nach oben ist, liegt schlicht daran, dass die Deutsche Oper den größten Saal unter Berlins drei Opernhäusern füllen muss. In der neuen Saison setzt man daher auf starke Regie-Handschriften. Gleich die erste Premiere dürfte sich dank der Beteiligung von Frank Castorf als Publikumsmagnet erweisen.
Warmgelaufen haben sich Sänger und Musiker schon mal. Ende August gastierte das Orchester beim Edinburgh Festival. In Berlin gab es Anfang September die Erstaufführung einer nicht ganz zu Unrecht vergessenen italienischen Oper aus dem frühen 19. Jahrhundert. Andrang herrschte trotzdem, waren doch Star-Primadonna Anna Netrebko und ihr Ehemann Yusif Eyvazov zu erleben. Noch einmal konzertant geht es schließlich am 17. September zu, wenn das Orchester der Deutschen Oper seinen Beitrag zum Musikfest Berlin leistet.
Die erste „richtige" Premiere fand am vergangenen Sonntag statt: Für Giuseppe Verdis Oper „Die Macht des Schicksals" hatte man den immer wieder polarisierenden Regisseur Frank Castorf eingeladen. Der langjährige Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz hatte Verdi bereits 1998 in Basel auf die Bühne gebracht, verwandelte dort „Othello" in einen Western. Für Aufsehen sorgte 2013 auch seine Inszenierung von Wagners „Der Ring des Nibelungen" in Bayreuth. Nun erlebt das Berliner Publikum Castorf erstmals als Opernregisseur.
Es geht nicht nur um Einzelschicksale
Mit „Die Macht des Schicksals" hat Castorf sich jenes Stück vorgenommen, mit dem Verdi die Hinwendung zum Ideen-Drama vollzog. „Es geht hier nicht nur um Einzelschicksale, sondern eine Idee steht im Vordergrund", erklärt Jörg Königsdorf, Chefdramaturg der Deutschen Oper. Gerade deswegen habe man ja Castorf eingeladen, einen „Regisseur, dem es um das Sichtbarmachen großer Konzepte über Epochen hinweg geht", sagt Königsdorf.
Die große Idee, das ist hier die des Schicksals, das unabänderlich und unaufhaltsam seinen Lauf nimmt – wird bei Verdi durch einen versehentlich ausgelösten Schuss in Gang gesetzt. Die vom Titel beschworene Macht des Schicksals wirkt in der Oper auf allen Ebenen: als Verfolgungsjagd über Jahre und Länder hinweg, die zum einzigen Lebensinhalt der drei Hauptfiguren wird.
„Verdi glaubte nicht an die Beherrschbarkeit der Welt. Es herrscht das Schicksal; wir können es nicht beeinflussen", meint Frank Castorf. „Mir gefällt dieses Beharren darauf, dass jeder Mensch Göttliches und Teuflisches in sich trägt. Das steht jedoch unserer heutigen Überzeugung entgegen, dass wir jeden inte-grieren und im Sinne unserer Demokratie zu einem guten Menschen machen können."
Kaum eine Verdi-Oper schildert Not und Gewalt so drastisch wie der 1862 uraufgeführte Vierakter, der im Original „La forza del destino" heißt. Es geht um die tragische Liebe der Grafentochter Leonora zu Don Alvaro, Sohn eines spanischen Adligen und einer Inka-Prinzessin. Als die beiden fliehen wollen, werden sie vom Grafen überrascht. Zufällig löst sich ein Schuss und tötet den Grafen. Don Carlo, der Bruder Leonoras, will den Tod des Vaters rächen.
Diese Dreieckskonstellation wird von Verdi fulminant psychologisch ausgeleuchtet. „Die Gefühle von Schuld und Rache, welche die drei Hauptfiguren beherrschen, haben in ihrer Intensität etwas Rauschhaftes", unterstreicht Frank Castorf. „Zugleich ist alles in dieser Oper doppeldeutig; es gibt einen fortwährenden Widerspruch zwischen der Natur des Menschen und seiner Ideologie", so auch bei der weiblichen Hauptfigur Leonora. „Sie ist stark durch das Verhältnis zu ihrem Vater geprägt, der als eine Art autoritäre Führerfigur an Mussolini oder Hitler erinnert. Andererseits setzen ihr Begehren und ihre sexuelle Fantasie alle Begriffe von Ehre und Jungfräulichkeit außer Kraft."
Don Alvaro wiederum ist die Polarität schon in den Körper geschrieben, weil in seinen Adern auch Indianerblut fließt. Auch er steckt im Zwist zwischen Sollen und Wollen. „Alvaro will das Inka-Reich zur Vorherrschaft führen; gleichzeitig sehnt er sich nach der Liebe Leonoras und einem friedfertigen Leben", sagt Castorf.
Am Ende stürzt sich Alvaro, Gott und die Menschheit verfluchend, von einem Felsen. Dieses ursprüngliche Finale stieß Verdis Zeitgenossen so vor den Kopf, dass der Komponist den Schluss abmilderte. Drastisch bleibt gleichwohl die Schilderung einer Welt, die durch Krieg und Elend immer weiter aus den Fugen gerät. „Mit seinen Massenszenen brachte Verdi den Krieg auf eine neue, realistische Weise auf die Bühne", erklärt Dramaturg Jörg Königsdorf. „Der Entstehung dieser Oper gingen die ersten modernen Massenkriege unmittelbar voraus: Krimkrieg, Bürgerkrieg in Amerika, die Italienischen Unabhängigkeitskriege. Durch Fotografien und Zeitungen hatte die Öffentlichkeit daran direkter als je zuvor Anteil."
Ein idealer Stoff also für Frank Castorf, der auch im Schauspielbereich immer wieder die Brücke zwischen großer Politik und Einzelschicksal schlägt. Und bei dieser Produktion wie schon bei seinen vorherigen mit dem serbischen Bühnenbildner Aleksandar Denić zusammengearbeitet hat. Dessen spektakuläre Bühnenbilder, etwa für Castorfs Bayreuth-„Ring", wurden vielfach ausgezeichnet. Im Foyer der Deutschen Oper sind derzeit Fotos von Denićs Produktionen ausgestellt.
Castorf und Denić verlegen Verdis Oper in das Neapel von 1943, das der italienische Autor Curzio Malaparte in seinem Roman „Die Haut" schildert. „Malaparte beschreibt die von den Alliierten befreite Stadt, wo die Befreiten zu Handlangern für die dunkelsten Triebbefriedigungen der Befreier werden", sagt Castorf, der Zitate aus dem Roman auf die Bühne einblenden lässt. „Diese Pervertiertheit wird in einer Art geschildert, in der sich Realismus und Surrealismus verwischen." Im letzten Akt verwandelt Castorf das Kloster, in das Don Alvaro sich verkrochen hat, in ein Lazarett. Alvaro, ein nervöser Kettenraucher, haust hier in einem ausgedienten Militär-Lastwagen.
Vor allem aber ist es Verdis Musik, die das Stück ins Heute öffnet. „Die Musik steht für das vitalistische Prinzip, das die Figuren im Innersten antreibt", erklärt Castorf.
Meisterwerke des Belcanto
Seine Verdi-Inszenierung ist Teil des Schwerpunkts „Viva Italia", den die Deutsche Oper gerade in den Mittelpunkt stellt. Im Fokus steht dabei das Jahrhundert des Belcanto mit Meisterwerken aus der Zeit zwischen 1815 und 1920. Die italienischen Komponisten erfüllten die Wünsche des Publikums nach romantischer Melancholie, blutrünstigem Drama, spektakulären Effekten und volkstümlichem Kolorit auf verschiedenste Weise.
Quasi als kompletter Kontrast kommen die weiteren fünf Neuinszenierungen dieser Spielzeit daher. So steht beispielsweise im November eine Uraufführung der israelischen Komponistin Chaya Czernowin an. Im Januar setzt Donald Runnicles, seit zehn Jahren Generalmusikdirektor der Deutschen Oper, seinen weithin gelobten Britten-Zyklus fort. Diesmal ist die einzige heitere Oper des britischen Komponisten an der Reihe: die Vertonung von Shakespeares „Ein Sommernachtstraum". Im nächtlichen Wald, zur Zeit der Mittsommernacht, verfließen die Grenzen zwischen Elfen- und Menschenwelt.
Im Mai wiederum wird Tschaikowskis Opernklassiker „Pique Dame" in den Spielplan aufgenommen. Einen Monat später schließlich startet die Deutsche Oper einen neuen „Ring des Nibelungen"; Regie führt der Norweger Stefan Herheim, den die Zeitschrift „Opernwelt" schon dreimal zum Regisseur des Jahres erkoren hat.
Und bereits im Frühjahr steht ein weiterer Höhepunkt an: das Endzeit-Mysterium „Antikrist" aus der Feder des dänischen Komponisten Rued Langgaard.
Langaard, 1893 in Kopenhagen geboren, blieb zeitlebens ein Außenseiter. Mit seinen Experimenten zwischen Expressionismus, Spätromantik und Minimalismus konnten die Zeitgenossen nicht viel anfangen. Langgaards Eltern waren Pianisten. Der Knabe wurde als Wunderkind gehandelt; die Berliner Philharmoniker brachten die erste Sinfonie, „Klippepastoraler", des gerade einmal 20-Jährigen zur Uraufführung. Doch später entwickelten sich Lang-gaards Ideen zu schnell für seine Epoche: Der Pianist sollte auf dem Klavierdeckel trommeln und die Saiten zupfen. Seine zwölfte Sinfonie, „Hélsingeborg", gipfelt gar in der Vortragsanweisung: „Amok! Ein Komponist explodiert!". Wenig überraschend, dass Langgaards „Antikrist" zu Lebzeiten des Komponisten unaufgeführt blieb. Erst Ende des 20. Jahrhunderts wurde sein spannungsreiches Magnum Opus wiederentdeckt.
Die Musik ist eine Mischung aus schwelgenden Wagner-Klängen, dem rauschenden Orchester eines Richard Strauss, triebhaftem Expressionismus und feingliedrigen modernen Klangschichtungen. Zugleich schillert das Werk zwischen Oper, Oratorium und szenischer Sinfonie. Langgaard schuf hier keine fortlaufende Handlung, sondern reiht allegorische Bilder und Situationen aneinander. Ausgehend von der Offenbarung des Johannes entwirft er eine Endzeit-Vision und zugleich ein Spiegelbild der zerrissenen Zwanziger Jahre: In einer dekadent übersättigten, vollkommen amoralischen Gesellschaft erscheint der Antichrist in verschiedenen Gestalten.
Inszeniert wird das anspruchsvolle Werk von Ersan Mondtag, 1987 in Berlin geboren. Seine kraftvolle Bildsprache hat ihm bereits mehrere Einladungen zum Berliner Theatertreffen sowie die Ernennung zum „Nachwuchsregisseur des Jahres" beschert. Man kann gespannt sein, wie Mondtag den „Antikrist" lesen wird. Schließlich war auch er einmal Assistent von Frank Castorf.