Der Philosoph und Fachtierarzt Professor Dr. Jörg Luy, Gründer eines Forschungs- und Beratungsinstituts für angewandte Ethik, spricht über das Moralempfinden bei Menschen und warum auch Tierversuche als „fairer Deal" zu gestalten sind.
Herr Luy, in unserer Gesellschaft werden vor allem sogenannte Nutztiere wie Lebewesen zweiter Klasse behandelt. Wie sehen Sie das?
Für mich als Ethiker stellt sich das so dar: Der Mensch besitzt ein Moral- und Gerechtigkeitsempfinden mit zwei autonomen, größtenteils unbewusst arbeitenden Steuerungsprogrammen. Das eine Programm steuert unsere Urteils- und Entscheidungsfindung im Umgang mit allem, was wir wertschätzen. Das andere die Urteils- und Entscheidungsfindung im Umgang mit empathisch zugänglichen Wesen. Letzteres löst in unserem Bewusstsein dann ein von Empörung begleitetes Ungerechtigkeitsgefühl aus, wenn ein Wesen, in das wir uns imaginär hineinversetzen, in einer Weise behandelt wird, die wir selbst zurückweisen würden, wenn wir dieses Wesen wären. Empörung und Ungerechtigkeitsgefühl werden allerdings gleich wieder verdrängt, wenn wir die Situation als Dilemma wahrnehmen, wenn also alle von uns zur Kenntnis genommenen Optionen unattraktiv erscheinen. Dann entscheiden sich unsere Steuerungsprogramme spontan – ganz ohne unser Zutun – für die am wenigsten unattraktive Option und wandeln die Emotionen von Empörung und Ungerechtigkeit in diffuses Unbehagen um. Da bei betroffenen Menschen Empörung und Ungerechtigkeitsgefühl im Bewusstsein tatsächlich ausgelöscht und durch diffuses Unbehagen ersetzt wird, können diese Menschen die Empörung der unbefangenen Betrachter nicht nachempfinden. Wenn sie sich in Gruppen zusammenschließen, bestärken sie sich gegenseitig in der vermeintlichen Rechtmäßigkeit ihres Tuns.
Sie haben ein Buch über den fairen Deal mit Tieren geschrieben. Was genau meinen Sie damit?
Wenn wir unbefangen urteilen, können wir im Umgang mit Tieren ebenso wie mit Menschen nur faire Deals akzeptieren. Ein fairer Deal zeichnet sich dadurch aus, dass beide Seiten dem Handel zustimmen, weil für beide Seiten die Vorteile überwiegen beziehungsweise weil der Deal als „Win-win-Situation" ausgestaltet wurde.
Faire Deals scheint es bei Tierversuchen nicht zu geben.
Neben den Versuchen an Tieren finden Versuche an menschlichen Probanden statt. Dieser Studientyp ist ethisch und rechtlich korrekt geregelt; denn alle Probanden nehmen nach umfassender Aufklärung über die Risiken freiwillig teil, wenn ihre persönliche Chancen-Risiko-Abwägung ergeben hat, dass es sich für sie lohnt, teilzunehmen. Diese Regelung entspricht der Forderung unseres Gerechtigkeitsempfindens, nur faire Deals zu akzeptieren. In gleicher Weise müssten Tierversuche reguliert sein. Denn auch Versuche an Tieren können nur dann ethisch vertretbar sein, wenn sie für die Teilnehmer eine „Win-win-Situation" bieten. Das einzige „Messinstrument" für die ethische Vertretbarkeit, das es gibt, sind unbefangene Beobachter, also Menschen, die weder direkt noch indirekt davon profitieren, dass der Versuch durchgeführt oder nicht durchgeführt wird. Auf das Urteil dieser Menschen kommt es an. Wenn beispielsweise Versuche so gestaltet sind, dass die Tiere ohne Zwang und Manipulation selbst entscheiden, wie weit sie für die in Aussicht gestellte Belohnung gehen, wird die Situation von unbefangenen Beobachtern als unproblematisch wahrgenommen, vergleichbar mit der Situation eines Hundehalters, der seinem Tier Kunststücke beibringt. Solche Versuche gibt es; sie sind in der tierexperimentellen Praxis aber sehr selten. Es ließ sich zeigen, dass viele Tiere bereits für ein Leckerli bereit sind, kleine Eingriffe ohne Gegenwehr zu akzeptieren, beispielsweise sich Blut abnehmen zu lassen. Viele Zwangsmaßnahmen könnten so vermieden werden. Da das Training jedoch einen gewissen Zeitaufwand erfordert, wird kaum von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht. Bleibt aber noch die Frage, ob sich auch die angst- und schmerzlose Lebensbeendung als fairer Deal ausgestalten lässt. Wie Umfragen gezeigt haben, hält die große Mehrzahl der Bürger dies für möglich und zwar schon zum Zweck des Verzehrs. Bedingung war, dass die Tiere zuvor ein durchgängig schönes Leben hatten. Es ist anzunehmen, dass diese Einschätzung auf den Zweck der medizinischen Forschung übertragen werden kann. Die unvorhergesehene angst- und schmerzlose Lebensbeendung als etwas Bedrohliches anzusehen, ist wahrscheinlich etwas typisch Menschliches, das aus unserem verbalen Nachdenken über die Zukunft gespeist wird.
Sie haben mal in einem „Spiegel"-Interview die Frage gestellt, warum wir nicht an Menschen experimentieren. Menschen können sich frei entscheiden, Probanden in der Medizin gegen Geld gibt es ja schon lange.
Mit der Frage wollte ich darauf hinweisen, dass bei Menschen- und Tierversuchen mit zweierlei Maß gemessen wird, was bei unbefangenen Betrachtern zuverlässig ein von Empörung begleitetes Ungerechtigkeitsgefühl auslöst. Im Regelfall lässt sich dieses Ungerechtigkeitsgefühl bei tierexperimentell arbeitenden Wissenschaftlern nicht erzeugen. Das stützt meine Annahme, dass sich Wissenschaftler, die ihre berufliche Zukunft an Tierversuche geknüpft haben, in einem Dilemma befinden und infolgedessen bei ihnen das Ungerechtigkeitsgefühl aus dem Bewusstsein verdrängt wird. Wenn Sie Wissenschaftler auf Menschenversuche ansprechen, werden Sie reflexartig zur Antwort bekommen, die seien doch ethisch nicht vertretbar. Auf die Nachfrage, ob denn dieselben Versuche an Tieren ethisch vertretbar sind, heißt es dann: Anscheinend schon, denn sonst würden sie ja nicht genehmigt werden. So schließt sich der Zirkel.
Laut Gesetz sind Versuche mit Wirbeltieren nur erlaubt, „wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind". Wie kann das beurteilt werden?
Die entscheidende Frage an dieser Stelle lautet: Wie definiert das Tierschutzgesetz ethische Vertretbarkeit? Bei der Neufassung des Tierschutzgesetzes im Jahre 1972 wurde eine aus heutiger Sicht ethisch inkorrekte Form der Verhältnismäßigkeitsprüfung in das Gesetz aufgenommen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne besagt, dass die Inkaufnahme von Nachteilen bei Betroffenen dann unverhältnismäßig und inakzeptabel ist, wenn die Nachteile in einem Missverhältnis zu den Vorteilen stehen. Aus Sicht der Ethik – und auch aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts – gilt es dabei als inakzeptabel, Nachteile für die Betroffenen mit Vorteilen für den Handelnden oder für Dritte zu verrechnen. Um einen fairen Deal abzuschließen, ist es erforderlich, dass alle Betroffenen den Deal als attraktiv und fair betrachten, und das ist dann der Fall, wenn er für alle mit mehr Vor- als Nachteilen verbunden ist. Die Gesetzesbegründung bleibt an dieser Stelle vage. Die juristische Interpretation der 1986 in das Tierschutzgesetz aufgenommenen „ethischen Vertretbarkeit" besteht darin, die Nachteile für die betroffenen Tiere eben doch mit den Vorteilen für Dritte zu verrechnen. Praktisch können durch diesen Kniff die Schmerzen, Leiden und Schäden der Tiere einfach weggerechnet werden.