Auf Madagaskar leben rund 100 verschiedene Arten von Lemuren. Mit einem erfahrenen Guide können Besucher den Feuchtnasenaffen begegnen und noch andere faszinierende Tiere entdecken.
Früher waren sie bis zu 850 Kilo schwer, heute sind Lemuren, von denen es in Madagaskar noch immer rund 100 verschiedene Arten gibt, deutlich kleiner. Die größte noch nicht ausgestorbene Lemurenart ist der Indri, ein Feuchtnasenaffe mit schwarz-weißem Fell, der ausgewachsen zwischen acht und zehn Kilogramm schwer werden kann.
Wir sind unterwegs im Mitsinjo-Park, uns begleitet Tahinienne Razaiarimahefa, die seit dem Jahr 2013 hier regelmäßig als Guide tätig ist. Sie will uns zum Aufenthaltsort der Indris führen. Dass diese in der Nähe sind, davon braucht uns niemand zu überzeugen. Ihre an Heultöne von Sirenen erinnernden Morgengesänge sind bereits am Eingang des Naturreservats zu hören. „Indris haben drei verschiedene Laute. Der morgendliche Gesang dient vor allem dem Markieren des Reviers, darüber hinaus haben sie einen Warnlaut, wenn sich Angreifer nähern. Und in der Brunftsaison hört man häufig ihren Liebeslaut", berichtet Tahinienne und ahmt den Indri-Liebeslaut nach, der wie ein kussähnliches Schmatzen klingt.
Pflanzen mit Heilkräften
Auf dem Pfad, der durch den Mitsinjo-Park führt, lenkt die Touristenbegleiterin unsere Aufmerksamkeit zuerst einmal auf deutlich kleinere Tiere, etwa auf ein Kurzhorn-Chamäleon, einen Giraffenhalskäfer und auf kleine Frösche, die in kleinen Wasserpfützen leben, die sich in den Blättern der Elefantenohr-Pflanze gebildet haben. „In Madagaskar gibt es an die 350 verschiedene Froscharten, das sind mehr als es in Costa Rica gibt. Und hier, in unserem Gebiet, leben rund 120 davon", berichtet Tahinienne nicht ohne Stolz – und sie zeigt uns das Gebäude einer Froschzuchtstation, das sich auf dem Mitsinjo-Gelände befindet. Ebenso wie eine Aufzuchtstation für Jungbäume, mit der die traditionellen Gehölze Madagaskars, die mittlerweile zum Teil durch importierte Baumarten verdrängt wurden, erhalten werden sollen.
Immer wieder hält sie am Wegesrand kurz an, zeigt uns Pflanzen und beschreibt deren medizinischen Nutzen. Egal ob verdorbener Magen oder hoher Blutdruck, gegen alles scheint hier ein Kraut gewachsen zu sein. Die Blätter eines Busches freilich scheinen weniger von den Menschen gefragt zu sein, sondern eher von den Indris geliebt zu werden. Und genau mit diesen Blättern in der Hand lockt André, ein Mitarbeiter des Reservats, nun einen Indri herbei, der sich von der Baumkrone Sprung für Sprung nach unten wagt. „Wir haben fünf verschiedene Indrigruppen hier im Park, doch nur in dieser hier finden sich zwei Tiere, die so zutraulich sind, dass sie sich füttern lassen", erklärt Tahinienne, „Die Indrigruppen werden von Weibchen dominiert, diese kontrollieren die Gruppe aus der Mitte des Territoriums heraus, die Männchen finden sich eher in den Außenbereichen", erläutert sie weiter.
Es ist jedoch nicht das ausgewachsene Leittier, das sich uns nähert, sondern eines der jüngeren, das schließlich mutig zu den dargereichten Blättern greift, und diese laut schmatzend zu sich nimmt – wobei es mit seinen grünen Augen, die aus einem zorroartigen schwarzen Gesicht herausstrahlen, aufmerksam beobachtet, ob von irgendwo Gefahr droht. „Indris zu töten, ist für die Madegassen ein Tabu, es gilt als ‚fady‘. In unserer heimischen Sprache nennen wir die Indris auch Babokoto, und wir betrachten sie als Tiere, die den Menschen helfen und wohlwollend sind", versichert Tahinienne. Etwa 15 Minuten lang bleiben die beiden angefütterten Tiere bei uns und lassen sich weder von Kameras noch von Smartphones bei ihrem vegetarischen Mahl stören. Dann haben sie genug und entfernen sich rasch in Richtung der Baumwipfel. Die vier weiteren Gruppen der Indris, die im Mitsinjo-Park leben, bekommen wir nicht zu Gesicht – doch sirenenähnliche Schreie und Gesänge bezeugen ihre Anwesenheit.
Entdeckung des kleinen Mauslemurs
Acht verschiedene Lemurenarten leben auf dem Gebiet des Mitsinjo-Parks und des angrenzenden Analamazoatra-Reservats, das Teil des Andasibe-Mantadia Nationalparks ist. Vier davon sind tagaktiv, vier jedoch nachtaktiv. Nachdem wir mit dem Indri bereits die größte Lemurenart gesehen haben, machen wir uns am Abend, wieder begleitet von Tahinienne Razaiarimahefa, auf die Suche nach der kleinsten Lemurenart, dem Mauslemuren. Schnell merken wir, dass wir nicht die einzige Gruppe sind, die mit Taschenlampen und Strahlern ausgestattet auf der Straße am Waldrand entlangläuft – und schließlich auf einen Pfad abbiegt, der tiefer in den Sekundärwald hineinführt. Die Touristenführerin hat schon bald ein Chamäleon entdeckt. Das Absuchen der Baumwipfel mit den Strahlern jedoch verläuft vorerst erfolglos. Die Guides hoffen, irgendwo eine Reflexion der Lemurenaugen zu entdecken. Doch dann plötzlich aufgeregte Rufe, und fünf Gruppen hasten gleichzeitig durch das Unterholz, darunter eine Gruppe von rund 20 Chinesinnen und Chinesen, die fast alle mit fast 50 Zentimeter langen Teleobjektiven ausgestattet sind.
Alle treffen sich an einem dünnen Bäumchen, dessen Stamm maximal 15 Zentimeter Durchmesser hat und dessen oberste Zweige angestrahlt werden. Denn dort sitzt ein Mauslemur – und so lange er geblendet wird, kann er nicht flüchten. Das aufgeregte Reden der Besucher, das Klicken der Fotoapparate, das Flackern der Lichtkegel, die den Mauslemuren fixieren, das Wackeln des dünnen Baumstamms – all das wirkt absurd und unwirklich. Ein Chinese, der ein besonders langes Teleobjektiv dabei hat, aber kein Stativ, stützt seine Kamera kurzerhand auf dem Kopf seiner Ehefrau ab. Klick, klick, klick, klick. Ich habe Angst, dass der Trupp das Bäumchen, auf dem das verschreckte Tier sitzt, einfach umreißen könnte.
Am nächsten Tag bin ich mit Guide Tojo, der aus dem Ort Andasibe stammt, und seinem Helfer Everest im Maromizaha-Naturreservat unterwegs, einem 16.000 Hektar großen Primärregenwald, der hauptsächlich von Lemurenforschern genutzt wird. Seit gut zwei Jahren sind die Randbereiche des Reservats auch für den Ökotourismus geöffnet. Hier findet sich keine Spur mehr von Massentourismus. Auf der etwa vierstündigen Wanderung begegnen wir nur wenigen anderen Gruppen, diese bestehen vor allem aus Einheimischen. Everest, der gleich am Rande des Naturreservats wohnt, ist unermüdlich, klettert links des Wegs nach unten und rechts des Weges nach oben – und meldet sich, wann immer er eine Entdeckung gemacht hat. Etwa ein Prachtexemplar eines grünen Parsons-Chamäleons, das ein dünnes Baumstämmchen umklammert. Parsons ist eine der größten und markanatesten Chamäleonarten in Madagaskar. „Das hier ist ein männliches Tier, denn es hat zwei kleine Hörner, und es ist ein relativ junges Tier, denn sein Körper ist vergleichsweise schlank", erläutert Guide Tojo, und klettert über Baumwurzeln zurück zum Pfad. Wir steigen bergauf und bergab, überqueren kleine Bäche auf aus dem Wasser ragenden Steinen – und folgen schließlich dem Ruf Everests, der vom Pfad abgebogen ist und links einen bewaldeten Hügel erklommen hat. Zuerst sehe ich dort nur wackelnde Zweige, dann huscht kurz eine Art Schatten vorbei. Wir sind still, warten – und schon bald fühlen sich die Sifakalemuren sicherer und zeigen sich. „Diese Tiere sind die zweitgrößte Lemurenart in Madagaskar, sie kommen nur im Primärwald vor, und sie brauchen ein großflächiges Territorium", sagt Tojo leise. „Sie werden auch die tanzenden Lemuren genannt, denn auf dem Boden bewegen sie sich nicht auf vier Füßen fort, sondern auf zwei." Wie das aussieht, lässt sich an einem Ast rechts von uns beobachten, auf dem ein Sifaka aufrecht steht und sich oben an anderen Zweigen festhält. Im Gegensatz zum Indri haben die Sifakas lange Schwänze. Diese helfen ihnen, die Balance zu halten.
Aussichtspunkt am Waldrand
Etwa zehn Meter entfernt, an einem Baumstamm, entdecken wir zwei weitere Tiere. Ein Sifaka-Baby mit Knopfaugen und einem kleinen schwarzen Gesicht, das von hellem Fell gesäumt wird, beäugt uns – es klammert sich an den Bauch der Mutter, fast wie ein Känguru, nur ohne Beutel. „Die Tiere machen das etwa zwei Monate lang so. Wird das Jungtier älter, nimmt es die Mutter dann auf dem Rücken", weiß Tojo. Den Beweis, dass er Recht hat, entdecken wir drei Minuten später, eine weitere Sifaka-Mutter mit ihrem Nachwuchs. Dieses Baby ist bereits etwas größer und krallt sich am Rücken der Mutter fest.
Etwa 15 Minuten dauert die Begegnung, dann entfernen sich die Tiere allmählich, und wir laufen zurück zum Pfad, machen Rast an einer Unterkunft der Forschungsstation, sehen eine Schlange, die gerade ihren Winterschlaf beendet hat und aus ihrem Erdloch gekrochen ist. Während ich mich mit Tojo unterhalte, ist Everest verschwunden – doch plötzlich hören wir seine Rufe aus dem Wald. Ein steiler Hang abwärts, ein kleiner Bach, wieder steil nach oben. Plötzlich zeigt Tojo nach rechts in den Wald – ein Bambuslemur hüpft vorbei, so flink, dass ich ihn kaum erspähen konnte. Bald darauf folgen weitere Tiere, eines davon hält an einem Baumstamm, etwa acht Meter von uns entfernt, eine zweiminütige Rast, bevor es mit schattenhaften Sprüngen wieder im Unterholz verschwindet. Nach dieser Begegnung wird es Zeit für den Rückweg, auf dem wir noch einen Indri in den Baumwipfeln hängen sehen – bevor wir zu einem Aussichtspunkt am Waldrand weiterziehen. Während unser Blick über die hügelige Waldlandschaft schweift, hüpft plötzlich nur fünf Meter entfernt noch einmal ein Sifaka-Lemure vorbei. Everest freut sich, dass mir die Exkursion gefällt und versucht sich im Smalltalk. „Bei Euch in Deutschland, welche Lemuren habt ihr eigentlich dort?", möchte er wissen. Ich versichere ihm dass es keine gibt, weder Indri noch Sifaka, weder Bambus- noch Mauslemuren. Für den Madagassen Everest, der direkt am Rande des Maromizaha-Naturreservats wohnt, klingt so etwas natürlich unvorstellbar.