„Die Leute werden morgen nicht demokratisch, nur weil sie schon lange in Deutschland leben", sagt Ahmad Mansour, gefragter Experte für Islamismus. Seine Projekte helfen Jugendlichen aus muslimischen Einwandererfamilien, den Zirkel des Extremismus zu durchbrechen.
Herr Mansour, hat sich in den letzten Jahren der Einfluss der Islamisten in Deutschland verändert?
Verändert ja, aber nicht immer zum Positiven. Wir merken beispielsweise, dass bestimmte Strukturen nicht mehr existieren und sich die Szene in Deutschland lokaler organisiert. Zudem übernehmen neue, andere Akteure die führende Position innerhalb der Szene. Denjenigen geht es nicht mehr darum, junge Menschen zum Dschihad in den Irak oder nach Syrien zu locken, das ist von gestern. Wer jedoch daraus den Schluss zieht, dass wir den Kampf gewonnen hätten, der irrt. Wir haben weder den Terror oder den Salafismus und Radikalisierung hinter uns gelassen, sondern erleben lediglich eine Phase der Beruhigung und Konsolidierung. Wenn ich jedoch genau zuhöre und hinschaue, wie die Jugendlichen denken und welche Einstellungen sie haben, dann sehe ich in der Zukunft neue Wellen von Radikalisierungen und auch von Gewalt.
Gibt es Organisationen, die man genauer betrachten sollte? Beispiel DITIB? Also Organisationen, die nach außen gemäßigt wirken, aber doch zur Radikalisierung beitragen?
Das ist unser Denkfehler, uns nur auf diejenigen zu konzentrieren, die offen zu Gewalt aufrufen oder sich dem IS oder Al Kaida anschließen. Aber Radikalisierung ist immer ein Prozess. Diese Prozesse beginnen nicht beim IS, sie enden beim IS. Das heißt, zu Beginn gibt es Wegbereiter. Menschen, die eine gewisse Religiosität schaffen, auf der sie ihre Ideologie noch radikaler aufbauen. Diese Form der Religion und Ideologie grenzt ab, grenzt aus und verhindert, dass diese Menschen Teil dieser Gesellschaft werden oder bleiben. Da sehen wir natürlich teilweise bei DITIB oder teilweise auch bei den Muslimbrüdern. Das sind Organisationen, die vielleicht nicht offen zur Gewalt aufrufen, aber durch ihre Religiosität und Art und Weise, wie sie Religiosität verstehen, eine Basis schaffen. Auf der dann Radikale ihre Ideologie aufbauen können.
Sie betonen immer die Bedeutung des Grundgesetzes. Wie verhält sich denn der Islam zum Grundgesetz?
Ich habe ein Problem mit dem Wort „der Islam". Das ist keine homogene Gruppe. Es geht darum, wie man seine Religion versteht und lebt. Ich kenne Menschen in Deutschland, die Muslime sind, die den Islam als ihre Religion verstehen, die aber nicht zweimal überlegen müssen, ob Gleichberechtigung für sie gut ist. Sie leben Gleichberechtigung im Alltag. Sie erziehen ihre Kinder nicht zur Abgrenzung, leben nicht in Parallelgesellschaften. Für sie ist Religion etwas Spirituelles, das dann wichtig ist, wenn sie krank sind oder Hilfe und Orientierung brauchen. Wenn Sie aber den Islam meinen, der vor allen in den Verbänden und Moscheen praktiziert wird, dann ist das natürlich in großen Teilen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein Religionsverständnis mit Geschlechterapartheid, das unmündig macht, das auf Angst basiert, das die Menschen dazu aufruft, auf Distanz zu unserer Gesellschaft zu gehen, das ist ein Religionsverständnis, das in großem Widerspruch zum Grundgesetz steht.
Haben wir schon Parallelgesellschaften, oder ist das nur ein Kampfbegriff rechter Politiker?
Für mich sind Parallelgesellschaften nicht die Sonnenallee oder irgendwelche Bezirke in Köln, wo man vielleicht türkisch essen kann, wo es unterschiedliche Supermärkte gibt. Das finde ich eigentlich positiv. Wir haben Little Italy, China Town in den USA, das sind jetzt nicht die Orte, die ich mit Parallelgesellschaften meine. Dagen gibt es aber Parallelgesellschaften, in denen Clans herrschen, wo man nicht frei leben kann, wo die Frauen ihre Partner nicht alleine wählen können. Das sind Orte, die auf jeden Fall in Deutschland existieren. Ich glaube, man muss blind sein, um das nicht zu sehen. Natürlich gibt es in der rechten Szene Personen, die Probleme mit der Migration, mit Muslimen, thematisieren wollen. Aber das ist nicht mein Maßstab. Mein Maßstab ist, zu schauen, wie man diese Menschen gewinnen kann. Dass die Rechtsradikalen das für sich benutzen und instrumentalisieren, ist leider nicht zu verhindern.
Sehen Sie es auch so, dass der Antisemitismus in unserer Gesellschaft zugenommen hat?
Der Antisemitismus hat sich nicht verstärkt, er ist einfach lauter geworden. Antisemitismus war immer herkunftsübergreifend. Es gibt ihn von links und rechts, aber es gibt auch muslimischen Antisemitismus. Die Menschen, die aus Syrien gekommen sind, aus Afghanistan, dem Irak, sind alle dort sozialisiert. Für viele ist Freiheit ein Feindbild, das sie bekämpfen wollen. Das ist etwas, das wir auf jeden Fall erkennen müssen. Und uns als Konsequenz Konzepte überlegen müssen, wie wir diese Menschen erreichen können, die auch neue Aspekte im Antisemitismus mitbringen. Durch die Entwicklung in der Türkei, die Propaganda von Erdogan, durch den Salafismus und die Radikalisierung ist der Antisemitismus in der muslimischen Community stärker und selbstbewusster geworden. Was die Großeltern vielleicht dachten, aber nicht gezeigt haben, sich nicht trauten, das macht die dritte Generation sehr deutlich, schreckt nicht vor antisemitischen Äußerungen zurück. Verständlich, dass Juden Angst haben. Es gibt keinen einzigen Tag, an dem nicht über antisemitische Vorfälle berichtet wird. Aber ich finde, in dieser Gesellschaft darf Antisemitismus absolut nicht existieren.
Welche Projekte liegen Ihnen zurzeit besonders am Herzen?
Ich habe eine Initiative gegründet und organisiere gemeinsam mit Kollegen verschiedene Projekte. Begonnen haben wir Ende dieses Jahres ein Antisemitismus-Projekt, gemeinsam mit einer Schule, mit Flüchtlingen und Menschen mit Migrationshintergrund. Wir werden in das KZ Flossenbürg fahren und uns mit dem Thema Holocaust und Drittes Reich beschäftigen. Auf Grundlage dieser Erfahrungen werden wir dann ein Theaterstück entwickeln, uns mit dem Thema auseinandersetzen, um dann in Schulen und Jugendzentren versuchen, Jugendliche zu erreichen. Wir gehen in Gefängnisse und versuchen Kriminelle, aber auch Terroristen zu erreichen, indem wir genau von diesen Themen sprechen: von Antisemitismus bis Salafismus. Wir versuchen, Denkanstöße zu geben, Alternativen zu zeigen. Daneben geht es aber auch um Vorbilder. Und es geht darum zu zeigen, dass es auch einen anderen Weg gibt. Nämlich einen demokratischen, offenen und freiheitsorientierteren Weg.
Herrscht in Berlin eine falsch verstandene Liberalität, wie manche behaupten?
Das würde ich nicht als Liberalität bezeichnen, sondern vielmehr als eine Art von fahrlässiger Naivität.
Wie sieht Deutschland Ihrer Meinung nach in zehn Jahren aus?
Wir sollten jetzt Geld investieren, um neue Konzepte zu entwickeln. Der Zeitpunkt ist günstig, denn momentan können wir noch handeln, um bestimmten Trends längerfristig etwas entgegen zu setzen. Wenn wir das tun, sehe ich eigentlich eine gute Chance, etwas ändern zu können. Aber wenn wir das nicht tun, bin ich sehr skeptisch, was die Zukunft angeht. Solche Konflikte, solche Probleme, verschwinden nicht von alleine. Die Leute werden morgen nicht demokratisch, weil sie schon lange in Deutschland leben. Man muss viel tun, um sie erreichen zu können.