Autonomie bis ins hohe Alter ist in unserer Gesellschaft ein wertvolles Gut. Doch was, wenn sie durch Krankheit, Unfall oder Demenz verloren geht? Für diesen Fall haben die meisten nicht vorgesorgt.
E muss nicht immer ein Autounfall sein, nach dem das Hirn schwerstgeschädigt ist, auch ein Herzinfarkt oder Schlaganfall kann der Auslöser sein. „Wenn es um die Betreuungsvorsorge geht, sorgen die Deutschen zu wenig vor. Oft gehen sie davon aus, dass Vorkehrungen für solche Fälle nicht nötig sind", erklärt Professor Dr. Volker Thieler, der sich in München als Anwalt auf Betreuungsrecht spezialisiert hat. Sein Rat lautet: „Eine Vorsorgevollmacht sollte jeder erstellen, sobald er 18 Jahre alt und solange er gesund ist. Denn nicht automatisch haben Eheleute, Lebenspartner oder Eltern erwachsener Kinder das Vorsorge- und Betreuungsrecht."
Dank der Errungenschaften der modernen Medizin werden wir immer älter. Mit dem Lebensalter wächst allerdings auch das Risiko für altersbedingte Krankheiten: Krebs, Arthrose, Altersblindheit und besonders Alzheimer und Demenz. Arthrose kann man behandeln und die Schmerzen lindern. Knochenbrüche können geheilt werden. Der Kopf bleibt aber fit, und man kann selbst entscheiden und sich wehren, wenn etwas Unrechtes passiert.
Gehen aber die Wörter im Kopf verloren, wird eine Demenz diagnostiziert, kann es richtig schlimm werden. „Weg vom Geist" respektive „ohne Geist" – so lautet die wörtliche Übersetzung des lateinischen Begriffs „Demenz". Sollte diese Erkrankung eintreffen, hat man besser vorgesorgt. Ansonsten bleibt nur die Hoffnung auf einen engagierten rechtlichen Betreuer, der vom Gericht bestimmt wird. Jemand, der sich um die Behördengänge kümmert, der im Interesse seines Schützlings entscheidet, wo dieser einmal wohnen möchte. Zu Hause oder in einem Heim, das auf spezielle Bedürfnisse eingehen kann. Schließlich wollen wir alle in Würde leben und alt werden.
Doch es kann passieren, dass es auf einmal mit der Würde nicht mehr so genau genommen wird. „Die Würde des Menschen ist unantastbar", heißt es in unserem Grundgesetz. Und in Deutschland soll niemand gegen seinen Willen seine Selbstständigkeit verlieren. Es gibt ein Recht auf ein selbstbestimmtes Dasein.
So weit die Theorie. In der Praxis verhält sich das Ganze wesentlich komplizierter. Achtet ein Staat die Menschenwürde, wenn Alte und Kranke in Heimen untergebracht werden, deren Personal so knapp bemessen ist, dass kaum Zeit für Zuwendung bleibt? Achtet ein Staat die Menschenwürde, wenn rechtliche Betreuungen per Gerichtsbeschluss verhängt werden und dann die Kontrolle über die Durchführung fehlt? Wenn dem Betroffenen das Konto entzogen, nicht mehr auf seine Gesundheit geachtet, wenn die Post geöffnet und somit das Selbstbestimmungsrecht immer weiter untergraben wird? Und wenn nahe Verwandte hier hilflos zusehen müssen?
Vorsorgevollmachten werden nur selten gemacht
Es gilt, rechtzeitig zu handeln und die notwendigen Formulare auszufüllen. Doch die Menschen sind Meister im Verdrängen. Im Zentralen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer sind nur etwa drei Millionen Vorsorgevollmachten, Betreuungsverfügungen und Patientenverfügungen registriert. Es gibt keine verlässlichen Zahlen, da nicht alle Vorsorgeunterlagen an einem Ort erfasst werden. Aber man kann davon ausgehen, dass vor allem viele junge Menschen keine Vorsorgevollmacht ausgefüllt haben. Dabei können auch sie durch Sport- oder Verkehrsunfälle schwere Verletzungen erleiden, eventuell mit dem Risiko, zum lebenslangen Pflegefall oder Komapatienten zu werden.
„Im Betreuungsrecht ist der Schutz der Familie außer Kraft gesetzt. Der Richter muss nicht die Angehörigen fragen, welche Entscheidungen er vorhat zu treffen", warnt Thieler. „Und diese haben kein Mitspracherecht, wenn sie nicht vorher versucht haben, dem Verfahren beizutreten. Der Richter kann allerdings auch einen Beitritt der Angehörigen zum Betreuungsverfahren ablehnen."
Das Vormundschafts- und Gebrechlichkeitsgesetz wurde durch das am 1. Januar 1992 in Kraft getretene Betreuungsgesetz abgelöst. Es sollte erhebliche Verbesserungen für Erwachsene bringen, die früher unter Vormundschaft und Gebrechlichkeitspflegschaft standen. Betreuung statt Bevormundung, das war das Ziel des neuen Gesetzes. Es sollte moderner sein, Totalentmündigung durch Mitbestimmung und Teilbetreuung ersetzt werden. Die Regelung der Finanz- oder Rechtsgeschäfte sollten zum Beispiel Verwandte oder Ehrenamtliche übernehmen. Man hoffte auf mehr Vertrauen und Fürsorge. Bereits zu dieser Zeit brauchte man Verstärkung. Ein neuer Berufszweig entstand: die professionellen Betreuer.
Bezahlte Betreuer arbeiten mittlerweile für mehrere hunderttausend Menschen. Wenn dabei etwas schief läuft – nicht im Sinne des Betreuten entschieden wird –, erfährt es der Amtsrichter zuletzt.
Das Gesetz hat aber den ein oder anderen Haken. Denn selten machen sich die Richter, die letztendlich die Entscheidung treffen, wer betreut werden muss und wer als Betreuer eingesetzt wird, die Mühe, genau herauszufinden, wie die Sachlage ist. Sie entscheiden nach Aktenlage und vertrauen auf Gutachten.
Richter entscheiden nach Aktenlagen und Gutachten
Besonders älteren Menschen mit teilweise kognitiven Einschränkungen wird manchmal zu Unrecht der Stempel Demenz aufgedrückt. Die Anhörung dient dann lediglich der Wahrung der Form. Jedoch sind es die Richter, Rechtspfleger und Betreuer, die bestimmen, wo der Betreute zu leben hat, wer ihn besuchen darf, was mit seinem Eigentum geschieht, welche medizinischen Maßnahmen durchgeführt werden. Und das kann man durchaus „entmündigt" nennen. „Entmündigung" soll es nach dem neuen Gesetz nicht mehr geben.
Doch hier wird heute immer noch so verfahren wie vor mehr als 25 Jahren. Heute heißt es „Betreuung". Das klingt netter, verschweigt allerdings das Wesentliche: Es geht um rechtliche Vertretung in allen Angelegenheiten. Und die hat es in sich.
Das beginnt bereits bei der Anhörung des Betroffenen und den Entscheidungsmerkmalen für eine rechtliche Betreuung. Die zuständigen Richter haben nicht die Zeit, möglichen Machtmissbrauch von Betreuern durch Kontrollen wirksam zu verhindern. Trotzdem wird die Betreuung ohne Prüfung des Umfeldes zu rasch angeordnet. Vorgeschrieben ist lediglich, dass der bestellte Betreuer als „geeignet" für die Übernahme der festgelegten Aufgabenkreise gelten muss.
Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird mit der Einrichtung einer Betreuung die Handlungsfreiheit des Betreuten ganz oder teilweise eingeschränkt. An seiner Stelle kann der Betreuer innerhalb der vom Gericht angeordneten Aufgabenkreise entscheiden. Bei der Gesundheitsvorsorge kann er bestimmen, zu welchem Arzt der Betreute gehen darf, und entscheiden, wo der Betreute leben soll. Zum Beispiel in welcher Stadt oder in welchem Dorf, zu Hause oder in einem Pflegeheim.
Das Gericht kann seine finanziellen Angelegenheiten ganz oder teilweise dem Betreuer übertragen. Dieser kann beim Giro- oder Sparkonto den Geldein- und -ausgang prüfen und feststellen, ob das Konto im Dispo steht oder ob Zinsen auf dem Sparkonto aufgelaufen sind.
Wenn der Staat den von ihm eingesetzten Betreuern nicht auf die Finger schaut, sind Tür und Tor für Betrug und Betrüger geöffnet.
Markus Binninger hat in einer Studie der Polizeihochschule in Münster bayerische Fälle von Betreuungsbetrug systematisch analysiert und stellt fest: „Die Betreuten sind ihren Betreuern quasi wehrlos ausgeliefert und diese können das ausnutzen – bis hin zur Plünderung sämtlichen Vermögens." Er macht darauf aufmerksam, dass Betreuer viel zu wenig kontrolliert werden. Angesichts des immer wieder auftretenden massiven Machtmissbrauchs wäre seiner Meinung nach eine konsequente Aufarbeitung der Betreuungskriminalität nötig, um Täterstrategien zu analysieren und Staatsanwälte zu schulen –
und um potenzielle Opfer zu schützen. „Die Gerichte sollten die Kontrolle einer Organisation übertragen, zum Beispiel einer Stiftung", schlägt Thieler vor.
Betreuer entscheiden über alle Aspekte des Lebens
Was aber im Betreuungsrecht wie eine Selbstverständlichkeit klingt, nämlich dass jeder seinen Betreuer wählen oder abwählen kann, ist kaum durchsetzbar. Für einen Betreuerwechsel muss der Betroffene einen Antrag beim Gericht stellen. Ob das Gericht dem Antrag zustimmt, liegt in dessen Ermessen. Nach §1908b Absatz 1 BGB hat das Betreuungsgericht den Betreuer zu entlassen, wenn seine Eignung, die Angelegenheiten des Betreuten zu versorgen, nicht mehr gewährleistet ist oder ein anderer wichtiger Grund für die Entlassung vorliegt.
Einer der Gründe wäre, dass der Betreuer seinen Pflichten nicht nachkommt und zum Beispiel keinen persönlichen Kontakt zu dem Betreuten pflegt. Doch den Richtern fehlt es an Zeit, zügig zu prüfen, ob eine Entlassung des Betreuers gerechtfertigt ist, und ob das Handeln des Betreuers dem Wohl des Betreuten dient oder schadet.
Verbände und Juristen haben schon längst erkannt, dass der Beruf des Betreuers professionalisiert werden muss. Denn Betreuer kann jeder werden, es ist keine Ausbildung notwendig, und es gibt keine geschützte Berufsbezeichnung. Kritiker sprechen daher von der „Betreuungsfalle".
Bekommt man einen Betreuer, der sich um die Belange des Betroffenen kümmert, kann dies eine wirkliche Hilfe sein. Bekommt man aber einen Betreuer zugeteilt, der sich nicht ausreichend um das persönliche Wohlergehen seines „Schützlings" kümmert, sitzt man buchstäblich in der Falle. Und wenn man sich mit dem betreffenden Gesetz nicht auskennt und spontan sein Einverständnis zu einer Betreuung erklärt, dann gibt man ohne es zu ahnen, sein Leben aus der Hand.
Immerhin werden je nach Schwere der Behinderung bis zu sieben Jahre für die Betreuung festgelegt. Wenn das Gericht erst danach überprüft, ob eine gesetzliche Betreuung überhaupt noch notwendig ist, dann heißt das für viele alte Menschen: lebenslänglich.