Mindestens eine halbe Stunde pro Tag sammelt Arno Meyer Müll – nicht weil er muss, sondern aus Passion. Vor allem bei Verpackungsmüll bricht Deutschland bei der Müllmenge pro Kopf einen neuen Rekord.
Eine Packung Capri-Sonne, Vivil-Papier, Coffee-to-go-Becher, Kronkorken, leere Bierflaschen oder Getränkedosen, Plastikschnipsel, jede Menge Zigarettenkippen, Feuerzeuge, Bonbonpapier, verklebte Kaugummis. Nach 400 Metern ist die Tüte bereits voll Müll. Abfälle, die einfach so am Boden liegen, auf Bürgersteigen, auf Grünstreifen, verfangen in Büschen am Straßenrand oder aufgestaut vom letzten Regenschauer vor dem Gullideckel. Arglos weggeworfen, gedankenlos und wohl meistens ohne böse Absicht ist der gesammelte Müll in der Tüte Ausdruck unserer Wegwerfgesellschaft.
Arno Meyer, 47 Jahre alt, aus Illingen im Saarland, hat dem Müll den Kampf angesagt. Mindestens eine halbe Stunde am Tag sammelt er mit Greifer und Tüte bewaffnet all das ein, was unsere Konsumgesellschaft nach einmaligem Gebrauch der Umwelt hinterlässt. Ob in der Mittagspause rund um das Gelände seines Arbeitgebers oder abends beim Rundgang an seinem Wohnort, ja selbst im Urlaub, bei jedem Wetter, Müllsammeln hat sich bei ihm zu einer Art Leidenschaft entwickelt.
Eine Stunde ist er an diesem Mittag in St. Ingbert unterwegs. Seine Hausstrecke, wie er sagt. Obwohl er sie wie seine eigene Westentasche kennt, holt er mit dem Greifer jeden Tag immer wieder neuen Müll hervor. „Coffee-to-Go-Becher sind immer dabei", sagt der zweifache Familienvater. Laut Deutscher Umwelthilfe werden in Deutschland pro Stunde rund 320.000 Einwegbecher weggeworfen – einmal genutzt für durchschnittlich zehn Minuten. Diese Becher, aus 95 Prozent Pappe hergestellt, können nicht einmal recycelt werden, da sie mit einem speziellen Überzug imprägniert sind. „Wir gehen mit unseren Ressourcen der Vergangenheit äußerst verschwenderisch um. Schließlich muss ein Baum rund 100 Jahre wachsen. Und das, damit die Menschen letztendlich daraus Becher für den einmaligen Gebrauch herstellen. Das kann nicht sein", fordert Arno Meyer seine Mitmenschen dazu auf, diesen Verpackungen zumindest die kalte Schulter zu zeigen, wenn sie schon beim Müllsammeln nicht mitmachen und nur beim Produzieren: 230 Kilo Verpackungsmüll pro Kopf kamen laut Umweltbundesamt 2017 in Deutschland zusammen.
Passanten belächeln den Müllsammler im Vorbeigehen

Die meisten Passanten nehmen Arno Meyer gar nicht wahr, verwechseln ihn mit einem Arbeiter von der Kommune. Gelegentlich wird er belächelt, wenn er mit Greifzange und Tüte unterwegs ist. Als Spinner oder verbohrten Ideologen sehen ihn manche, einige gucken verschämt weg, der eine oder andere kennt ihn schon, manche erlauben sich Scherze mit ihm und legen die Mülldosen immer an die gleiche Stelle wie Schüler von der benachbarten Schule. Erschrecken kann ihn das nicht. Arno Meyer geht seinen Weg, sammelt Müll und stellt die vollen Säcke an dafür vorgesehene öffentliche Stellen ab, versehen mit dem Aufkleber „Du schaffst das auch! Mach mit!" Per App werden die zuständigen Stellen und Ordnungsämter auf die Müllsäcke hingewiesen. Zumindest ein Appell ans schlechte Gewissen. Denn was ihn ärgert, ist nicht nur die Gleichgültigkeit vieler Mitbürger, sondern auch die weit verbreitete Ignoranz in der Wirtschaft und die Halbherzigkeit vieler Politiker beim Klima- und Umweltschutz: „Ein Dreiklang mit immer der gleichen ausgeleierten Argumentationskette." Die Wirtschaft begründet alles mit Arbeitsplätzen, die Politik ist der Meinung, sie tue etwas – das saarländische Umweltministerium geht sogar davon aus, dass alle Einwegbecher im vorgesehenen Entsorgungssystem landen, so Meyer, und die Konsumenten verweisen gerne auf zu wenig vorhandene Papierkörbe. Besonders öffentliche Abfallbehälter seien im Prinzip asozial, denn hier entsorgen beispielsweise die Anbieter von Einwegbechern auf Kosten der Steuerzahler ihren Abfall, so Meyer. „Wir alle zahlen für Starbucks und Co deren Entsorgung. Rund 20 Prozent des Abfalls in öffentlichen Papierkörben sind diese Becher."
„Beschämend ist, dass wir Menschen das eigentlich alles wissen und uns trotzdem anders verhalten." Während wir uns über Plastikmüll in den Ozeanen aufregen, bei Fernsehbildern über sterbende Wale mit Plastik im Bauch Besserung geloben, anwachsende Müllberge einfach hinnehmen, verhalten wir uns vielfach anders, machen weiter so und verweisen gerne auf das Ausland. Deutschland stellt zwar nur ein Prozent der Weltbevölkerung, verursacht aber zwei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen und liegt in puncto Müllaufkommen mit 412 Millionen Tonnen (Statistisches Bundesamt 2017) weit vorn im Ranking aller Länder. Leider ist Deutschland auf diesem Gebiet Europameister. 462 Kilogramm Müll entfallen im Durchschnitt auf jeden Bundesbürger im Jahr, und das Saarland ist mit 483 Kilogramm pro Kopf einsame Spitze. Dabei ist Müllsammeln die einfachste Sache der Welt und ein einfaches Mittel, etwas gegen die zunehmende Verschmutzung zu tun.
Bereits im zarten Alter von sieben Jahren hat Arno Meyer Müll gesammelt. Aber im guten Glauben, die Erwachsenen würden das Abfallproblem lösen, stellte er das Müllsammeln ein wenig zurück. Erst 2017 startete er wieder durch nach einem erschreckenden und gleichzeitig wachrüttelnden Besuch in der Heimat seiner aus China stammenden Frau. Einer der einst schönsten Strände Chinas hatte sich in eine von Menschen gemachte, riesige, ekelhafte Kloake verwandelt. Das schockierte ihn.
Pappbecher, Außenspiegel, Drogen und Waffen
Seit seiner Rückkehr aus China ist das tägliche Müllsammeln ein Ritual. „Jeden Tag draußen an der frischen Luft hat Müllsammeln sogar etwas Meditatives", erzählt er und stochert mit seinem Greifer einen abgefahrenen Außenspiegel aus dem Gebüsch hervor. Sogar drei Pistolen, davon eine echte, habe er schon gefunden und der Polizei gemeldet. Auch Drogen und Medikamente seien des Öfteren dabei. Und wer glaubt, Müllentsorgen und Wegwerfen würden nur die armen Menschen tun, der irrt gewaltig. Bei illegalen Müllablagerungen in den Wäldern habe er schon Adressen entdeckt und das den zuständigen Ordnungsämtern gemeldet. „Man glaubt ja gar nicht, wer sich so etwas alles traut."
Inzwischen hat Arno Meyer mehrere Aktionen ins Leben gerufen. Dazu zählen das erste Cleanup Network im Saarland „Illingen engagiert gegen Müll" oder die Webseite www.bäckerei-becherfrei.de, auf der Bäckereien aufgeführt werden, die komplett auf Einwegbecher verzichten. Zehn bis 15 Mitstreiter hat er ebenfalls schon gefunden, die sich in lockeren Runden gelegentlich treffen, um neue Aktionen zu besprechen. „Da werden schon mal Taschenaschenbecher verteilt oder Auftritte in Schulen organisiert oder Vorträge gehalten", erzählt er stolz. „Bei einer Aktion haben wir in Illingen auf einem Spielplatz innerhalb kurzer Zeit über 3.000 Zigarettenkippen eingesammelt. Wenn man bedenkt, dass Kippen zum Sondermüll zählen, eine bedenkliche Situation für unsere Kinder", so Meyer. Diese Aktion hat die Gemeinde aufhorchen lassen. In Ottweiler wurde außerdem ein weiteres Cleanup Network, „Ottweiler räumt auf", gestartet.
Zu Hause versucht die ganze Familie, Müll weitgehend zu vermeiden. Manchmal besorgt er Lebensmittel bei den so genannten Fairteilern, wo gerettete Lebensmittel abgegeben werden, kauft unverpackt und meidet große Ketten. Beim Müllsammeln ist die Familie gelegentlich dabei, „auch wenn mein Sohn es peinlich findet".
Selbst wenn das Mitmachen leidlich schwer fällt, so gibt uns Arno Meyer zumindest eines mit auf den Weg. „Wir dürfen nicht wegschauen. Unseren verschwenderischen Lebensstil müssen die nachfolgenden Generationen bitter bezahlen." Müll sei für ihn nichts anderes als Leben auf Kosten anderer.