Im geschichtsträchtigen Chełmno in Polen herrscht am Valentinstag Ausnahmezustand. Verliebte aus ganz Polen pilgern in den Ort, in dem überall im Namen Amors Konzerte, Ausstellungen und Feiern stattfinden.
Am besten ist es, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen. Zugegeben, ein bisschen muss man sich dafür schon anstrengen, denn rund 60 Meter geht’s steile Stufen hinauf auf den Turm der Pfarrkirche. Der Ausblick ist jeden Schweißtropfen wert: Was für ein Bilderbuchblick! Chełmno, das früher mal Culm hieß, sieht von hier oben aus, als ob ein Architekt des Mittelalters seine Traumstadt aus Bauklötzchen hingestellt hat. Alles ist perfekt – gut verteilt übers gesamte Stadtbild sechs Kirchen, die Straßen wie auf einem Schachbrett angeordnet. Mittelpunkt des Ortes ist das prachtvolle Rathaus mit einem riesigen Markt. Parks und Grünanlagen hier und da, und alles ist sauber mit einer fast geschlossenen 2.270 Meter langen Stadtmauer mit 23 Türmen und zwei Stadttoren umschlossen. Außerhalb der Mauer lassen sich die neun Hügel erahnen, die der Stadt, rund 130 Kilometer südlich von Gdansk und nur einen Katzensprung von Torun und Bydgoczsz entfernt, einst zu ihrem Namen verhalfen. Denn „Culmen“ bedeutet im Lateinischen Hügel.
Eine der schönsten Altstädte Polens
1233 verlieh der Deutsche Orden Culm das Stadtrecht, die sogenannte Culmer Handfeste. Nach dem Vorbild dieses Gesetzeswerkes, einer Art Verfassung, wurden später mehr als 2.000 Städte und Dörfer gegründet, darunter Warschau, Gdansk und Torun.
Doch irgendwie geriet Chełmno, einst wichtige Handels- und Gewerbestadt und Mitglied der Hanse, gegenüber anderen polnischen Städten im letzten Jahrhundert immer mehr in Vergessenheit – wirtschaftlich wie touristisch. Obwohl in Reiseführern zu lesen war, dass der Ort eine der schönsten erhaltenen Altstädte Polens besitzt, machten Touristen lange eher einen Bogen um die Stadt. Das lag nicht nur daran, dass sie vom öffentlichen Verkehr so gut wie abgeschnitten war – und noch immer ist. Die Perle hatte über die Jahrzehnte, in denen sie bestenfalls halbherzig abgestaubt, nicht aber poliert wurde, auch viel von ihrem Glanz verloren. Und wahrscheinlich läge das Städtchen noch heute in einem Dornröschenschlaf, wären da nicht Anfang des neuen Jahrtausends ein paar junge Leute forsch mit verwegenen Ideen, großer Hartnäckigkeit und Überzeugungskraft zu Werke gegangen.
Die Reliquie des Heiligen Valentins ruht in einer Kirche
Elzbieta Pawelec hatte 2001 in Deutschland als Au-pair gearbeitet. „Weil Tourismuslyrik Chełmno auch als das polnische Rothenburg ob der Tauber bezeichnet, habe ich mir diese Stadt mal angesehen und war begeistert“, erzählt sie. „Nicht nur von der historischen Schönheit, sondern vor allem vom Zustand der Sanierung und den unzähligen Touristen. So stellte ich mir meine Heimatstadt künftig auch vor.“ Sie wusste aus Erzählungen, dass die Leute bis ins 19. Jahrhundert in Scharen nach Chełmno gepilgert waren, weil sie sich vom Heiligen Valentin, der als Schutzgott der Epileptiker verehrt wurde, Linderung ihrer Leiden erhofften. Denn seit dem 15. Jahrhundert wird in der Pfarrkirche eine Reliquie des Heiligen Valentins, ein Stück vom Schädel, in einem extra Altar aufbewahrt. Das Pilgerfest geriet in Vergessenheit und mit ihm die Reliquie.
Wie wäre es, dachte sich Elzbieta, als sie nach ihrem Jahr in Deutschland nach Hause zurückkehrte, sich des Heiligen Valentins zu besinnen. Denn längst galt er als der Schutzgott der Verliebten, und der Valentinstag erfreut sich auch in Polen immer größerer Beliebtheit.
Glücklicherweise bekam die Kirche gerade zu der Zeit einen neuen, jungen und modernen Vorschlägen gegenüber sehr aufgeschlossenen Pfarrer. „Denn ohne den Segen der Kirche geht in Polen gar nichts“, erzählt die heute 43-Jährige. Und so entstand die gemeinsame Idee, aus Chełmno die „Stadt der Verliebten“ zu machen. Einmal in der Stadtverwaltung angekommen, breitete sie sich ganz schnell aus und stieß überall auf offene Ohren.
Workshops fürs Blumenbinden
Seit 2002 herrscht in dem 20.000-Seelen-Städtchen alljährlich rund um den Valentinstag Ausnahmezustand. Verliebte aus ganz Polen in allen Altersgruppen pilgern in die Stadt. Wo man hinschaut, sieht man Herzen in allen Formen. Zum Beispiel beim Bäcker. Dort gibt es ein herzförmiges Valentinsbrötchen mit Liebstöckel, dem man aphrodisierende Wirkung nachsagt. Auch die Idee brachte Elzbieta aus Rothenburg mit, wo sie sah, wie die süßen „Schneebälle“ als kulinarisches Souvenir weggingen wie warme Semmeln.
Am 14. Februar wird’s in Chełmno schwer, ein einsames Plätzchen zu finden, aber das scheint den Verliebten nichts auszumachen. In den Kirchen, in denen spezielle Messen für sie gelesen werden, rückt man gern eng zusammen, damit alle Platz finden. Vor allem in der Pfarrkirche, wo an diesem Tag die heilige Reliquie aus ihrem gläsernen „Verlies“ geholt wird. Jeder möchte die Schatulle berühren, weil das angeblich ewiges Glück verspricht. Überall in der Stadt finden im Namen der Liebe Konzerte, Ausstellungen und Feiern statt. Es gibt ein Festival der Liebeslieder, kostenlose Workshops fürs Blumenbinden und Pralinenherstellung. Wenn es dunkel wird, verwandelt sich der Marktplatz in ein flammendes Herz aus unzähligen Kerzen. Das schaffte es 2003 sogar in das „Polnische Buch der Rekorde und Ungewöhnlichkeiten“. Hotelbetten werden am Wochenende rund um den Valentinstag mit Goldstaub aufgewogen, und wer unbedingt am 14. Februar in Chełmno heiraten will, der muss sich schon mindestens zwei Jahre zuvor um einen Termin bemühen.
Dass Paris behauptet, die Stadt der Liebe zu sein, nimmt man in Chełmno gelassen. Ihren Beinamen „Stadt der Verliebten“ haben sich die Stadtväter inzwischen sogar patentieren lassen, mit so etwas können die Franzosen nicht aufwarten. In den vergangenen Jahren hat die Stadtverwaltung viel unternommen, um den Beinamen mit Inhalt zu füllen. Egal, in welcher Jahreszeit man kommt, das Markenzeichen ist allgegenwärtig. Man findet es in Blumenteppichen und -skulpturen im Park Nowe Planty. Überall stehen originelle Bänke für Verliebte. Gegenüber dem Rathaus gibt es sogar eine, von der aus man live Grüße in die Welt schicken kann. Eine Videokamera macht’s möglich, Verliebte können so ihre Freunde über Facebook, Instagram und Co an ihrem Glück teilhaben lassen. Über die Website der Stadt gibt es auch die Möglichkeit, eine Valentinskarte zu verschicken.
Apropos schreiben: Wer sich der Wirkung seiner schriftlichen Liebesschwüre nicht so sicher ist, der kann sich im „Liebessekretär“, dem Lehrbuch für Verliebte, Anregungen holen. Walenty Fialek, ein Drucker aus Chełmno, veröffentlichte darin 1893 viele Muster für Liebesbriefe. Das Original befindet sich im Museum des Culmer Landes im Rathaus.
Auf dem Radweg nach Chełmno
Allerdings wäre es jammerschade, ausschließlich aus Herz-Schmerz-Gründen nach Chełmno zu kommen. Denn die Stadt hat so viel mehr zu bieten: 2003 wurde ein Generalsanierungsplan beschlossen, das meiste ist inzwischen erledigt. Ein Großteil der dafür notwendigen finanziellen Mittel kam von der EU und aus dem Staatssäckel. Seit 2005 steht die Altstadt auf der „Liste der Geschichtsdenkmäler des Präsidenten der Republik Polen“. An einem Haus übrigens gibt es eine Erinnerungstafel für den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, der hier 1895 geboren wurde und bis 1920 in Chełmno lebte. Seit 2002 ist die Internationale Jugendbegegnungsstätte Kurt-Schumacher-Haus am Stadtrand ein europäischer Treffpunkt junger Leute zum Gedankenaustausch über das Haus Europa.
Wie Elzbieta glaubhaft versicherte, soll die Kraft des Heiligen Valentins ganzjährig wirken – sie selbst sei schon seit 2001 schwer verliebt. Man kann sich auch auf sportliche Art von der Wirkung überzeugen. Auf dem Europa-Radweg 1 Richtung Osten kommt man nach Chełmno. Und dann bleibt man einfach ein paar Tage und saugt Liebe in hoher Dosis ein.
Allgemeine Infos: www.chelmno.pl
Weitere Reiseinfos zu Polen: www.polen.travel