Autor Michael Mikolajczak und Zeichner Andreas Möller haben sieben Jahre an ihrem Comic-Band „Die Spinne" gearbeitet. Entstanden ist ein facetten- und detailreicher Thriller, der die Entstehung von Gewalt thematisiert.

Andreas Möller (rechts) bei der Ausstellungseröffnung - Foto: Giulia Möller
Herr Mikolajczak, die Geschichte, die Sie sich ausgedacht haben, ist nichts für sensible Menschen, und auch nicht jugendfrei. Mit welcher Absicht sind Sie in diese menschlichen Abgründe hinabgestiegen?
In sehr vielen Geschichten wird Gewalt in extremer Form erzählt, in den meisten dieser Geschichten steht die erzählte körperliche Gewalt im Vordergrund. Mich interessieren Figuren in extremen Situationen, in denen sich seelische Abgründe aber auch seelische Kraft zeigen. Geschichten, die Gewalt mit gebrochenen, von Stereotypen abweichenden Figuren kombinieren, lese, sehe und schreibe ich gerne. Mag sein, dass solche Storys sich nicht für sensible Menschen eignen, ich würde das nicht zwingend am Alter festmachen, falls doch und falls „Die Spinne" ein Film wäre, würde ich hier eine FSK 16 empfehlen.
Herr Möller, dass ein Comic, eine gezeichnete Geschichte, einem Film-Thriller in Sachen Spannung in nichts nachsteht, verblüfft mich. Dass liegt vor allem an ihren Bildern. Wie sind Sie damit umgegangen, so viele Gewaltszenen auf Papier zu bringen?
Gewalt, physische und psychische, fatale Verstrickungen und dunkle Geheimnisse gehören zum Genom des Thrillergenres und des „Comic noir". Der Schlüssel zu ihrer Inszenierung ist immer der Kontext. Es ging mir darum, die Gewalt in „Die Spinne" nicht isoliert zur Schau stellen, sondern als ein notwendiges Bauteil im Motor der Handlung sichtbar zu machen. Die Gewaltspirale in dem Buch eskaliert in einer Bewegung von außen nach innen, zum Epizentrum der Gewaltausbrüche. Es wird erst am Ende deutlich, dass letztlich zwanghafte Rollenbilder und Gewalt als Erfahrung in der Kindheit die Spirale in Gang setzen. Die Wendungen am Schluss der Geschichte lassen die Akteure und ihre Taten plötzlich in einem anderen Licht erscheinen, ohne dass damit zugleich auch die Fragen nach Gut und Böse, schuldig oder unschuldig, Täter oder Opfer schon gelöst wären. Das fand ich sehr spannend und ich habe mit letztlich klassischen Mitteln der Comickunst – die Seitenkomposition, Licht und Schatten, extreme Perspektiven – versucht, dieser Dynamik und Ambivalenz eine Form zu geben.

Wie würden Sie die Charaktere ihrer beiden Hauptfiguren, Amber und Jimmy, beschreiben?
Mikolajczak: Amber ist eine Frauenfigur aus den 70er-Jahren, sie ist jung, sie will ihr eigenes Leben führen, sich nicht von ihrem Vater lenken lassen. Amber trotzt den Konventionen der Kleinstadt und der Familienhierarchie. Sie geht ihren eigenen Weg, der sie vom Vater weg und in eine Beziehung mit einem Afro-Amerikaner führt. Amber weiß, was sie vom Leben will, sie ist bereit, Konflikte und Konfrontationen einzugehen, um dies zu erreichen. Amber ist eine emanzipierte Frau. Amber hat mir ihrem Vater gebrochen und dennoch kehrt sie zu ihm zurück, versucht einen Neuanfang zu ihren Konditionen und scheitert. Familiensinn und Idealismus zeigen sich in ihrem Versuch und präsentieren eine weitere Charaktereigenschaft Ambers. Amber ist eine Kämpferin, sie gibt niemals auf. Ihr Selbsterhaltungstrieb und ihr Wille sind sehr stark. Amber unterscheidet sie dadurch von den Frauen vor ihr, die allesamt Jimmys Opfer wurden. Letztlich wird auch Amber zu einem Opfer Jimmys, sie verliert den Kampf um ihr Leben und wird zu einer tragischen Figur. Diese Tragik ist die Schnittmenge zwischen Amber und ihrem Peiniger Jimmy. Jimmy ist ein Kriegsveteran und kämpfte im Korea-Krieg. In der erzählten Gegenwart der 70er-Jahre lebt Jimmy zurückgezogen im Haus seiner Eltern außerhalb der Stadt. In diesem Haus wurde Jimmys Psyche gebrochen. Sein Bruder liebte es zu tanzen, sah sich als blondes Mädchen, nannte sich Libby. Missbrauch durch den Vater trieb Libby in den Selbstmord. Jimmy erlebte dies alles hautnah mit, seine Seele zerbrach daran, seine Psyche veränderte sich. Jimmy wurde zu einer „Spinne", die blonde junge Frauen in ihr „Netz" lockt, sie gefangen nimmt und zwingt für ihn zu tanzen. Jimmy ist ein tragischer Antagonist und eine zerbrochene Seele. Die Mischung Opfer und Täter zugleich zu sein, macht Jimmy zu einer spannenden Figur.
War beim Zeichnen das Sujet für Sie die größte Herausforderung oder: Welche gab es?
Möller: Als größte Herausforderung hat sich der Zeitaufwand herausgestellt. Ich bin anfangs davon ausgegangen, dass ich vielleicht zwei Jahre an der Geschichte zeichnen werde, es waren etwa 160 Seiten geplant. Am Ende war ich dann etwa sieben Jahre mit der Fertigstellung von „Die Spinne" beschäftigt und es sind zufällig genau 200 Seiten geworden. Die Arbeit an „Die Spinne" musste ich natürlich in Einklang bringen mit meiner Tätigkeit an der HBK Saar (Dozent für Kunstdidaktik, Anm. d. Red.), und auch mit Familienaktivitäten. Es gab einen Point of no return an dem ich mir gesagt habe, egal, wie lange ich noch brauche, ich nehme mir die Zeit und zeichne die Geschichte so zu Ende, dass ich zufrieden mit dem Ergebnis bin.

„Singt man das Lied „Happy Birthday" zweimal, während man die Hände mit Seife wäscht, sterben die Bakterien ab", erklärt Jimmy. Sie haben die Geschichte vor sieben Jahren geschrieben. Wie blicken Sie heute auf diese nahezu prophetische Textstelle?
Mikolajczak: In den Jahren vor der Corona-Pandemie war Händewaschen ein eher individueller Akt, Häufigkeit und Zeitdauer variierten von Mensch zu Mensch. Heute empfehlen Wissenschaftler die Hände oft und 20 bis 30 Sekunden lang zu wachen. Händewaschen wurde somit standardisiert. Meine Figur Jimmy war der Zeit weit voraus und ausnahmsweise ist seine Figur in dieser Händewasch-Szene der Graphic Novel ein positives Leitbild für alle Menschen. Wer hätte das vor sieben Jahren gedacht? Ich als Autor nicht.
Welche Rückmeldungen haben Sie zu „Die Spinne" erhalten?
Möller: Ich habe viele positive Rückmeldungen erhalten, besonders im Rahmen der gut besuchten Ausstellung mit den Originalseiten in der Galerie der HBK Saar im letzten Jahr. Die Eröffnung war für mich ein bewegendes Ereignis, das ich mit der Familie, Freunden, Unterstützern und neuen Bekanntschaften teilen konnte. Es gab eine Reihe von anerkennenden Buchbesprechungen und differenzierten Rezensionen, über die ich mich gefreut habe.
Mikolajczak: Die Reaktionen auf „Die Spinne" waren fast ausschließlich positiv. Als Autor freue ich mich sehr über konstruktive und positive Buchbesprechungen, diese sind aber nicht selbstverständlich, man muss auch Kritik einstecken können, das gehört zum Autorenalltag.