Seit Mitte März diktiert das Coronavirus unser Leben. Täglich gilt es, das Verhalten zu kontrollieren und Disziplin zu halten. Kein Wunder, dass die Menschen das zunehmend leid sind. FORUM sprach mit Prof. Andreas Glöckner über Wahrnehmungsermüdung.
Herr Glöckner, seit Wochen bestimmt das Coronavirus den Alltag. Was passiert, wenn das Risiko zur Routine wird?
Ermüdungserscheinungen sind nach wochenlanger Quarantäne normal. Man wird weniger aufmerksam. Die Fähigkeit, sich an alle Regeln zu halten, lässt nach. Viele sind frustriert, wollen ausbrechen, man möchte einfach nicht mehr. Dazu kommt, dass die meisten in den Quarantäne-Wochen selbst nichts erlebt haben. Das Gefühl, es ist zehn Tage lang gut gegangen, dann wird sich auch am elften nichts ändern – da lässt man halt die Maske mal weg.
Kennt man das auch aus anderen Situationen?
Der Autofahrer, der sich zu sicher fühlt und sein Auto nicht mehr ausreichend gegen Diebstahl schützt, die Bergsteigerin, die meint, ohne Sicherung auszukommen – sie alle gehen ein erhöhtes Risiko ein. So ist das auch mit Menschen, die Corona nicht mehr ernst genug nehmen. Anfangs haben in Deutschland die Bilder von den vielen Särgen in Italien und den Lastwagen, die in Kolonnen aus den Städten herausgefahren sind, einen Schock ausgelöst. Die Bilder haben gewirkt, jeder sah das Risiko und konnte es sich lebhaft vorstellen. Die daraus resultierende empfundene Bedrohung bedingt, wie riskant Menschen die aktuelle Situation einschätzen. Diese Risikowahrnehmung wiederum bestimmt das Verhalten. Unsere Daten zeigen, dass viele gar das Risiko überschätzt haben. Aber es war zu erwarten, dass dies nicht so bleibt. Eine Studie zum Ausbruch der Schweinegrippe 2009 in Italien zeigt beispielsweise, dass es zunächst nur ein moderates Wachstum der Fälle gab, welches aber nach einigen Wochen plötzlich scharf zunahm. Dies führen die Autoren darauf zurück, dass Menschen das Risiko zunächst überschätzten und sich an die Regeln hielten, nach einiger Zeit ihre Einschätzung aber nach unten korrigierten. Eine Unterschätzung des Risikos wäre in der aktuellen Situation brandgefährlich und muss dringend vermieden werden.
Wenn es nun so ist, dass die Menschen den Lockdown als Dauerzustand nicht mehr aushalten, er aber trotzdem immer noch notwendig ist – was empfehlen Sie da?
Man muss abwägen, welche Dinge man erlauben kann und welche nicht. Die Menschen brauchen einen Lichtpunkt am Horizont, ab dem sich etwas ändert. Die Politik ist gut beraten, den Lockdown nicht zum Dauerzustand zu machen und jede Maßnahme doppelt und dreifach zu erklären und zu begründen. Eine Strategie der flexiblen Anpassung der Maßnahmen ist empfehlenswert. Die ökonomischen, psychologischen und sozialen Konsequenzen von Maßnahmen müssen in einer ganzheitlichen Betrachtung berücksichtigt und offen diskutiert werden. Dies ist notwendig, um Menschen mitzunehmen und die Akzeptanz der Maßnahmen hochzuhalten. Es müssen seitens der Politik rationale Entscheidungen getroffen werden, bei denen die unterschiedlichen Konsequenzen nüchtern abgewogen werden. Dazu ist die Mitwirkung von Forscherinnen und Forschern unterschiedlicher Disziplinen notwendig. Ganz wichtig: das große Vertrauen, das der Wissenschaft und Organisationen wie dem Robert-Koch-Institut (RKI) entgegengebracht wird, nicht verspielen, gemeinsam erzielte Erfolge betonen.

Aber bei jeder Lockerung stellt sich doch bei vielen das Gefühl ein: Jetzt ist hoffentlich langsam alles vorbei.
Im Moment gelingt es noch sehr gut, die Risiken, die mit Lockerungen verbunden sind, klar zu benennen. Die Virologen, aber auch die Medien haben da einen guten Job gemacht. Die Leute sind gut informiert, die Risikowahrnehmung noch weitgehend intakt. Jetzt brauchen wir eine offene Diskussion über das Lockerungstempo, über die Risiken, aber auch über neue technische oder soziale Lösungen, wie etwa die Frage, wie Eltern, die Homeoffice machen müssen, durch mehr Kita-Betreuung entlastet werden können. Denn neben dem Kampf gegen das Virus machen sich soziale und wirtschaftliche Probleme immer stärker bemerkbar.
Anders gefragt: Wenn die menschliche Wahrnehmung ermüdet und die Leute nachlässiger werden – brauchen wir dann nicht schärfere Kontrollen und Sanktionen?
Eine so starke Überwachung, dass jeder eisern alle Regeln einhält, gibt es gar nicht. Die Angst davor, entdeckt und bestraft zu werden, ist noch nicht einmal ausschlaggebend. Viel wichtiger sind im aktuellen Kontext die sozialen Normen. Wenn alle anderen das schlecht finden, was ich mache, also keinen Abstand einhalten, keinen Mundschutz tragen, berührt mich das viel stärker als ein Verbot. Außenseiter will niemand so gerne sein. Wenn es um breit akzeptierte Verhaltensregeln geht: lieber mitmachen bei dem, was alle machen. Das kann in diesem Fall positiv sein – sollte sich aber nicht dahingehend auswirken, dass wir weniger kontrovers über Wege aus der Krise diskutieren.
Wie aber hält man die Aufmerksamkeit wach?
Pausen machen, mal etwas anderes als Corona ins Gespräch bringen, positive Nachrichten verbreiten, sich für Konzerte, Theater, Lesungen, die es online überall gibt, interessieren – ich weiß, das ist nicht einfach, weil fast alles mit dem Virus in Bezug gesetzt wird, bis hin zum Kochen und zum Basteln. Helfen können auch Routinen oder einfache Handlungspläne, die mit „wenn, dann" funktionieren: Wenn ich drei Stunden am Schreibtisch gesessen habe, gehe ich eine halbe Stunde raus. Und es hilft, miteinander zu reden (auf Abstand natürlich), sich gegenseitig zu unterstützen, Neues zu entdecken – und seien es Kochrezepte.
Rechnen Sie mit seelischen Schäden durch den Lockdown?
Die Belastung, die ja unterschiedlich wahrgenommen wird, kann schon Menschen krank machen, bis hin zu akuten Angstzuständen. Ich habe am Lehrstuhl Sozialpsychologie der Universität zu Köln in Kooperation mit einem Berliner Start-up das Forschungsprojekt „Covid-19-Persönlichkeit" ins Leben gerufen. Das Projekt soll Menschen in der aktuellen Krise mit psychologisch fundierten Ratschlägen unterstützen. Gleichzeitig wird erforscht, wie die Krise die Wahrnehmung und das Verhalten von Menschen beeinflusst, um in Zukunft noch bessere und differenziertere Empfehlungen und Ratschläge ableiten zu können.
Wie stecken die Kinder das alles weg?
Vielfach nehmen die Aggressionen zu, eine Folge der Reizeinschränkung, der Enge in kleinen Wohnungen, der Langeweile. Zu befürchten ist auch eine stärkere soziale Spaltung, weil das Homeschooling die Privilegierten eher stärkt und die anderen, die keine technischen Möglichkeiten haben, abhängt. Aber was die langfristigen Folgen angeht, da müssen wir abwarten – das können wir jetzt noch nicht abschätzen.
Darf man über Corona eigentlich Witze machen?
Eine Prise Humor kann durchaus hilfreich sein, um mit der aktuellen Situation besser zurechtzukommen. Wenn die Witze nicht auf Kosten der Schwachen und Kranken gehen und nicht darauf ausgerichtet sind, das Risiko zu verharmlosen, ist das auch in Ordnung. Klar, dass jeder mal seinen Frust loswerden will. Aber oft legitimieren Witze auch das Brechen von Normen – denken Sie an rassistische oder frauenfeindliche Witze. Die können böse Folgen haben.