Für viele Branchen bedeutete der Corona-Lockdown, dass sie ihre Türen schließen mussten. Für das Prostitutionsgewerbe könnte aus diesem vorübergehenden Berufsverbot nun aber ein dauerhaftes werden – jedenfalls, wenn es nach Frauen Union und einigen Bundestagsabgeordneten geht.
Wenn Nicole Schulze die Türen ihres Wohnwagens öffnet, um diesen ein paar Meter zu bewegen, kann auch mal der ein oder andere Stammkunde geeilt kommen. Seit über 16 Jahren verdient sie ihr Geld auf dem Straßenstrich, seit März dieses Jahres ist ihr das nicht mehr erlaubt, denn die Hygieneregeln in der Corona-Pandemie, insbesondere die Abstandsregelungen, sind ein großes Problem. Mit verheerenden Folgen für die Arbeiterinnen und Arbeiter der Sexbranche.
„Es gibt drei Gruppen. Einmal die, die Soforthilfen beantragen konnten und diese auch bekommen haben“, erzählt Schulze. „Das finden wir Sexarbeiter auch gut – denn es ist auch ein Beweis dafür, dass wir in diese Gesellschaft gehören.“ Aber nicht jede Sexarbeiterin hat Anrecht auf diese Soforthilfen von Bund und Ländern. „Dann gibt es die, die wenigstens die Grundsicherung beantragen konnten. Und dann die dritte Gruppe, die durch alle sozialen Raster fallen und gar nichts bekommen.“

Gerade für diese sei die wirtschaftliche Situation „die reinste Katastrophe“. Ihnen bleibt nur eines: die Illegalität. „Was sollen sie auch machen?“, fragt Schulze schulterzuckend. Gerade Frauen mit migrantischem Hintergrund wären besonders betroffen. „Sie saßen in Deutschland fest, weil die Grenzen zu waren. Die hatten keine anderen finanziellen Lösungen, als über Spenden zu leben oder eben illegal ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.“
Spendenaktionen habe es einige gegeben, erzählt sie. „Der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen hatte einen Notfallfonds ins Leben gerufen.“ Insgesamt habe der Verband, dessen Vorstand auch Schulze angehört, so etwa 400 Sexworker unterstützen können. „Ich habe persönlich auch Spenden gesammelt, mit denen ich weiteren 45 Frauen im Raum Trier und Köln helfen konnte.“ Denn hier ist auch Nicole Schulzes Arbeitsplatz. Meistens steht sie an einem Parkplatz in der Nähe von Trier. Dort herrscht nun gähnende Leere.
„Es ist zwar gerade verboten, aber trotzdem findet die Sexarbeit statt. Die Frauen müssen sich jetzt eben verstecken. Sie müssen aufpassen, denn sonst werden sie bestraft – egal, ob sie das Geld zum Leben, für Drogen oder zur Versorgung ihrer Kinder brauchen, sie müssen es im Geheimen tun“, so Schulze. Was die Politik aktuell in Bezug auf die Branche tue, sei für sie nicht mehr nachvollziehbar. „Pornokinos haben geöffnet. Die Swinger-Szene lebt wieder auf. Die Gesellschaft ändert sich ja nicht: Die Menschen haben auch weiterhin One-Night-Stands. Die dürfen das – aber weil ich Geld dafür nehme, darf ich es nicht“, sagt sie. „Ich fühle mich ungleich behandelt – das wirkt sich auch auf meine Psyche aus. Man beschäftigt sich ja damit. Man fühlt sich wie ein Mensch zweiter Klasse. Auch die Stigmatisierung, die dann von der Gesellschaft dazu kommt, geht einem nah. Ich habe da auch schon Anfeindungen erlebt. Die Kolleginnen, die finanziell gar nichts mehr haben, haben zudem auch noch mit dem Überlebensdruck zu kämpfen. Die müssen sich Gedanken machen, ob sie morgen noch etwas zum Essen haben.“
„Hygiene ist in unserem Job schon immer ganz vorn gewesen“

Wann sich diese Situation ändern könnte, bleibt noch immer ungewiss. „Hier in Rheinland-Pfalz gab es dieses On-Off. Freitags wurde mitgeteilt, dass die Prostitution mittwochs wieder öffnen dürfen. Darauf hat man die Hygienekonzepte veröffentlicht, in denen beispielsweise Massagen vorgesehen waren – das wäre ein Anfangsschritt gewesen. Natürlich kein voller Service – aber erste lockere Schritte. Wir waren auch der Meinung, dass das so funktionieren kann“, erinnert sie sich. „Viele haben sich auf eine Öffnung vorbereitet. Das war natürlich auch mit Ausgaben verbunden. Auf diesen Kosten sind sie dann sitzen geblieben, weil die Regierung dann meinte: Wir machen doch nicht auf. Von dem Geld hätten viele Frauen lieber ihren Kühlschrank voll gemacht.“ Dabei wären verschiedene Praktiken durchaus möglich, wie sie erklärt. „Eine unberührbare Domina hat beispielsweise gar keinen Geschlechtsverkehr – die kommt ihrem Kunden nicht näher als ein Friseur. Manche Bereiche hätten meiner Meinung nach also schon längst öffnen können.“
Ortswechsel nach Berlin-Tempelhof in den Hinterhof einer typischen Mietskaserne der Stadt. Im Gartenhaus logiert seit bald zehn Jahren das Studio Lux. Es ist sozusagen eine Arbeitsgemeinschaft sexueller Dienstleistung für Bizarr, Gay und SM. Also die etwas ausgefallenen, phantasievolleren Praktiken, geboten von einer Domina und ihrer Sklavin.
Hier ist auch das Reich von Lady Kat Rix, einem Bizarr-Modell. Die Utensilien für Fesselspiele hängen alle ordentlich aufgereiht an der Wand. Unter der Holzpritsche ist ein Stahlkäfig, in dem sich entweder der Kunde oder die Kundin, aber auch mal Kat Rix selbst einsperren lässt. Wenn denn das Studio Lux wieder seine Türen öffnen darf.
Gegenüber, auf der anderen Seite des Flurs in dem Gartenhaus, hat Dominus Berlin sein Refugium. Bei dem Enddreißiger in knallengen Lederhosen ist der Künstlername Programm. In der Mitte des Raumes steht ein Stahlgerüst mit Ketten und Seilzug, in der Mitte hängt eine „Freudenwiese“ aus schwarzem Leder, in dem seine männlichen Kunden sich bäuchlings liegend, verwöhnen lassen. Doch auch seine „Freudenwiese“ muss seit Mitte März regelmäßig entstaubt werden. Die Kundschaft fehlt.
Oben im großen Saal residiert Domina Johanna. Die Wände sind ohne Putz, die blanken Mauersteine vermitteln so eindrucksvoll die Atmosphäre eines Verließes Eine Knebelbank, ein Schultisch aus Zeiten Kaiser Wilhelms inklusive Rohrstock und ein Folterstuhl runden das Ambiente ab. Auf dem riesigen Holzbett sitzt Johanna mit Mund-Nasen Maske im Gesicht. Stolz verweist die strenge Lady darauf, dass gerade in ihrem Bereich der Körperkontakt eher nicht das Problem ist: „Ganz ehrlich, die Mund-Nasen-Maske könnte meine Kunden sogar noch antörnen, denn ich wache hier im Haus auf die strenge Einhaltung der Maskenpflicht. Hygiene ist in unserem Job schon immer ganz weit vorn gewesen, nicht erst seit dem Ausbruch der Pandemie“.

Die entsprechenden Auflagen vom Gesundheitsamt sind vergleichbar mit denen in einer Pflegeeinrichtung. Dazu haben die Sexworker schon aus persönlichen Gründen ein starkes Interesse „sich nicht irgendwas einzufangen, weil dann können wir nicht arbeiten,“ ergänzt Kollege Dominus Berlin. „Die eingesetzten Dildos und sonstigen Hilfsmittel wurden schon immer desinfiziert und bekommen dann obendrein noch ein Kondom drüber.“
Domina Johanna versteht darum die Diskussion um die einschlägigen Studios nicht, während auf Mallorca lustige Saufgelage stattfinden. „Wenn man das alles so genau nimmt, dann dürften auch keine Sportveranstaltungen stattfinden“, so Kat Rix. „Ganz abgesehen von den Flügen dicht bei dicht. Da ist doch spätestens nach einer halben Stunde überhaupt nichts mehr antiseptisch. Die Masken sind durchgeatmet und ohne Handschuhe hat jeder irgendwie überall schon seine Griffel dran gehabt,“ sagt Johanna sichtlich angefressen.
Die drei mit der besonderen Profession können seit Mitte März nicht mehr arbeiten und verdienen somit auch kein Geld. Die Einmalhilfe des Bundes ist längst aufgebraucht, auch die persönlichen Ersparnisse neigen sich langsam dem Ende entgegen. „Jetzt drohen uns langsam aber sicher das Jobcenter und Hartz IV.“ Doch darauf hat nicht nur Kat Rix absolut keinen Bock.
„Rechte von Sexarbeitern einkassiert“
Was die drei Studio-Arbeiter ebenfalls betrübt ist die Situation ihrer Kolleginnen draußen auf der Straße und in den „Spelunken“: „Die dürfen ja auch nicht arbeiten, aber sie machen es trotzdem. Viele sind hier nicht gemeldet, haben keine Krankenversicherung, teilweise keine Unterkunft,“ erzählt Dominus.Berlin aus seinem Umfeld. Kat Rix bestätigt: „Nicht wenige wohnen jetzt bei ihrem Stammfreier und schaffen dann nebenher im Park ain, jeglicher Schutz ist flöten.“ Gemeint sind sowohl der Hygiene- als auch der persönliche Schutz der Frauen. „Sie sind jetzt absolut Freiwild, weil sie ja illegal arbeiten und von ihren Freiern angezeigt werden können.”

Domina Johanna, seit 20 Jahren im Geschäft, spricht von einem „absoluten Rollback der politisch Konservativen und vor allem der verschiedenen Kirchen: „Unter dem Siegel der Pandemie werden jetzt alle in den letzten Jahrzehnten erstrittenen Rechte von uns Sexarbeitern wieder einkassiert. Und ganz offen geht man noch einen Schritt weiter, man will die Sexarbeit wieder kriminalisieren.“
Gemeint ist das neue Prostituiertenschutzgesetz, das derzeit vom deutschen Bundestag beraten wird. Kern dieses Gesetzes ist das „Sexkaufverbot“. Also nicht das Anbieten von sexuellen Dienstleistungen, sprich die Prostitution, wird unter Strafe gestellt, sondern die Annahme von solchen Dienstleistungen. Dominus Berlin erklärt: „Kommt also Frau oder Mann zu uns ins Studio Lux und lässt es sich gutgehen, werden die anschließend vor der Tür von der Polizei abgefangen und bekommen eine Strafe aufgebrummt. Dann können wir den Laden hier zumachen, dann kommt doch keiner mehr.“
Obendrein haben sich nun noch 16 Bundestagsabgeordnete für eine verschärfte Variante des Ganzen stark gemacht, mit dabei auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Verstärkung gibt es unter anderem auch von der Frauen Union (FU), einer Vereinigung der CDU.
In der Debatte ist das sogenannte „Nordische Modell“. Eine nicht ganz unumstrittene Methode, Prostitution einzuschränken. „Der Körper der Frau ist keine Ware“, betont die Vorsitzende der Frauenunion, Anette Widmann-Mauz. Gemeinsam mit Sabine Constabel vom Prostitutions-Aussteiger-Verein Sisters war sie vor Kurzem einem Online-Dialog der Frauen Union Tübingen zugeschaltet. Für das „älteste Gewerbe der Welt“ hatten beide kaum ein positives Wort übrig: „Mord gibt es auch seit Anbeginn der Menschheit und trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, Mord zu legalisieren“ und „Ein Mann, der ein Bordell betritt, betritt das ja schon mit einer latenten Frauenverachtung und kommt mit einer noch größeren raus“, hieß es dort unter anderem.
„Körper der Frau ist keine Ware“

Seit 2002 gilt Prostitution in Deutschland als normales Gewerbe. „Seit dieser Zeit haben sich die Personen, die sich prostituieren, komplett verändert. Während es früher überwiegend deutsche Frauen waren oder zumindest Frauen, die in Deutschland zu Hause waren und sich auskannten, ist es jetzt so, dass weit überwiegend ausländische Frauen in der Prostitution sind und da Bulgarien, Rumänien und Ungarn eben ganz vorne sind“, erklärt Constabel. Diese würden oftmals weder Rechte noch die Sprache in Deutschland kennen und verstehen. „Wenn wir schon mal die Prostitution um erhebliche Prozentsätze reduzieren können, und das zeigen die Länder, in denen das sogenannte Nordische Modell angewandt wird, dann können wir auch unsere Kapazitäten, was die polizeiliche Ermittlung und was die Hilfen anbelangt, viel stärker auf das, was dann noch stattfindet, konzentrieren. Wenn der Freier die Prostituierte findet, dann findet sie auch die Polizei“, ergänzt Widmann-Mauz.
Auch Karl Lauterbach war in der Vergangenheit mit ähnlichen Äußerungen aufgetreten. So verglich er das deutsche Prostitutionsgewerbe mit „einer modernen Form der Versklavung.” Nur die wenigsten Frauen würden diesem Beruf freiwillig nachgehen. Eine Behauptung, die Nicole Schulze nicht so stehen lassen möchte: „Wir haben auch viele selbstbestimmte Frauen unter uns, so wie ich – man kann nicht immer nur von den armen Frauen reden“, sagt sie. „Ich konnte jetzt 16 Jahre mit dieser Arbeit selbst für meinen Lebensunterhalt sorgen. Wenn dieses Nordische Modell kommt, welche Alternative habe ich denn dann? Ich müsste von Hartz IV leben.“ Viele Äußerungen beruhen in ihren Augen auf einem „sehr verzerrten, alten Bild“. „Ich denke, man sollte sich da mal ein bisschen mehr mit dem Gewerbe beschäftigen und sich mit den Frauen, wie auch den Männern unterhalten“, fordert sie.

Natürlich sei Zwangsarbeit ein Thema, aber laut Schulze sei das nicht nur in der Prostitution ein Problem: „Gerade in der Fleischindustrie gibt es auch Zwangsarbeiter, die mit fünf Mann in einem Zimmer wohnen müssen. Da redet man nur drüber, wenn es gerade einen Skandal gibt, sonst spricht da kein Mensch drüber. Es reden immer alle über die armen Frauen in der Prostitution“, sagt sie. „Wir haben einige Gesetze gegen Zwangsprostitution, die in meinen Augen auch gut sind und die auch ausreichen, um die entsprechenden Leute zu bestrafen. Dafür brauchen wir kein Nordisches Modell.“
Denn dieses hätte insbesondere eines zur Folge: „Auch wenn in Schweden dieses Modell besteht, findet dort ja trotzdem Sexarbeit statt. Im Verborgenen. Diese Frauen leiden dort sehr stark darunter. Ich weiß nicht, wie man ein solches Modell toll finden kann – es bringt nur Nachteile. Wir sehen ja jetzt schon in der Corona-Situation, dass viele Frauen viel Leid erleben. Die Sexarbeit findet in der Illegalität statt, die Frau kann sich nicht wehren. Wenn ihr Gewalt angetan wird, kann sie nicht zur Polizei gehen und das anzeigen. Das sollte nicht das Ziel einer guten Politik sein. Ziel sollte es sein, diese Frauen zu stärken und ihnen Rechte zu geben.“