Mit diesem Titel würdigte die Unesco Potsdam 2019, denn Brandenburgs Landeshauptstadt ist seit mehr als hundert Jahren Drehort und Experimentierfeld im Filmgeschäft.
Die Wiege des Kinos steht im historischen Marstall in Potsdam: Auf den ersten Blick ein rätselhafter Apparat mit einer Scheibe, einer Kurbel und einem Keilriemen wie bei einem Auto. „Nicht die Brüder Lumière haben das Kino erfunden, sondern Max und Eugen Skladanowsky aus Pankow“, sagt Sebastian Stielke im Potsdamer Filmmuseum – und bringt damit viele Besucher zum Staunen.
Im Jahr 1895 zeigten die Brüder die ersten Kurzfilme auf dem von ihnen erfundenen Bioskop, einem komplizierten Doppelprojektor. Kurz darauf starteten auch die Lumières in Paris – und waren bald erfolgreicher. Das einzige erhaltene Bioskop ist das älteste Exponat im Filmmuseum. Eines der jüngsten ist der Filmprojektor, den Quentin Tarantino in seinem in Potsdam gedrehten Streifen „Inglorious Basterds“ verwendete.
„Tarantino wollte den Projektor eigentlich vernichten, wie alle seine Kulissen. Das durfte er aber nicht, da es eine Antiquität ist – so ist der Apparat bei uns gelandet“, erzählt Stielke. Der 39-Jährige ist Schauspieler und stand in Potsdam unter anderem für die fünfte Staffel der Serie „Homeland“ vor der Kamera. „Das war eine winzige Rolle als UN-Sergeant“, sagt er. „Aber es ist ein Glücksfall, als deutscher Mime dabei zu sein. Man weiß nie, was sich daraus ergibt.“ Die Zusammenarbeit mit Kolleginnen wie Claire Danes genoss er: „Da gibt es keine Starallüren.“
Stielke entschied sich nach Engagements in seiner Heimat Bochum für Potsdam, wo er nicht nur auf der Bühne und vor der Kamera steht, sondern neben seinem Engagement für das Filmmuseum auch die Bewerbung Potsdams als „Creative City of Film“ der Unesco mit vorbereitete. Mit Erfolg: Seit Ende 2019 trägt die Stadt diesen Titel – als erste und einzige in Deutschland.
Der älteste Projektor der Welt von 1895
Als Kenner der Szene führt Stielke auch manchmal zu Film-Locations, angefangen bei der Wiege der Studios auf dem heutigen Gelände des Rundfunks Berlin-Brandenburg: Wilder Wein rankt an der Backsteinfassade einer einstigen Kunstblumenfabrik, in deren Glasanbau 1912 der erste Film gedreht wurde: „Der Totentanz“.
Nach dem Auftakt ging es rasant weiter in Babelsberg: 1924 drehte Alfred Hitchcock hier seinen ersten Streifen. Im gleichen Jahr wurde die „Entfesselte Kamera“ erfunden, der Vorläufer der heutigen Steadycam. 1926 produzierte Fritz Lang „Metropolis“ – der Klassiker zählt heute zum immateriellen Weltkulturerbe. „Beim Tonfilm dagegen war Hollywood etwas schneller“, sagt Stielke.
Bis zur Corona-Krise standen die Studios besser da als je zuvor. Zuletzt wurde meist parallel an mehreren Kino-, Fernseh- und Werbeproduktionen gearbeitet. Häufig heimsen Filme aus Babelsberg Preise oder Oscars ein. In puncto Innovation war Babelsberg immer führend. Erst kürzlich wurde ein „volumetrisches Studio“ mit 32 Kameras eingeweiht, in dem Schauspieler dreidimensional gescannt werden, um sie in virtuelle Welten zu versetzen.
„In Potsdam kannst Du Dich ein Leben lang mit dem Thema Film beschäftigen“, sagt Stielke. Angefangen beim Filmkindergarten über die Filmgrundschule, die gerade in Planung ist, und das Filmgymnasium bis hin zur Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Die nächste Station auf dem Rundgang mit Stielke. „Hier habe ich vier Jahre meines Lebens verbracht“, erzählt der Schauspieler. „Morgens um acht mussten wir schon im Ballettsaal stehen für Yoga oder Stangenexercise – ich habe es gehasst. Wer zu spät kam, wurde zu Liegestützen verdonnert.“

1954 gegründet, residiert die Uni heute in einem modernen Bau aus Glas und Beton neben dem Studio Babelsberg. Im Inneren verbinden Brücken und Treppen die Hörsäle, Probenräume und Tonstudios. In 14 verschiedenen Studiengängen werden Schauspieler, Regisseure, Kameraleute, Bühnenbildner und Filmmusikkomponisten ausgebildet.
Im Studiengang Schauspiel nimmt die Uni nur zehn Studierende pro Jahr auf – ausgewählt aus bis zu 1.000 Bewerbern. „Jeder Student hat einen Dozenten für sich alleine“, sagt Sebastian Stielke. „Es war schon eine coole Ausbildung.“ Zu den Fächern zählen Akrobatik, Fechten, Synchronsprechen und Barocktanz – mit ausgefallenen Lektionen vom Handstand-Überschlag bis zum Sprechtraining kopfüber vom Balkon hängend.
Nach der Film-Uni zeigt Stielke eine Ecke Babelsbergs, die erst seit wenigen Jahren zu den Filmstudios gehört: Auf einem einstigen Industriegelände entstand neben neuen Produktionshallen die größte Außenkulisse Europas: vier Straßenzüge, die sich je nach Thema in New York, London oder Paris verwandeln lassen. Hier entstanden zahlreiche Aufnahmen zur Erfolgsserie „Babylon Berlin“.
Die Studios sind zwar abgeschirmt, doch immer wieder gelingt es, einen Blick über eine Mauer oder durch eine Lücke im Zaun zu werfen. Zum Beispiel auf ein Mittelalterdorf, in dem Filme wie „Das kalte Herz“ oder „Die drei Musketiere“ entstanden. Durch ein offenstehendes Tor sieht man auf verbrannte Betonpfeiler, scheinbar Gebäudeüberreste nach einer Explosion für die Serie „Dark“.
Das Studio Babelsberg macht es Besuchern nicht leicht, hinter die Kulissen zu blicken. Die wohl höchste Konzentration von Requisiten und Kulissen erlebt man daher im Filmpark Babelsberg – zum Beispiel am „Kolleplatz“, der Außenkulisse der Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Nur wenige Meter weiter stapeln sich Goldbarren – Requisiten aus „Monuments Men – Ungewöhnliche Helden“ mit George Clooney. Mauerteile aus „Der Baader Meinhof Komplex“ überragen den Kiosk aus „Sonnenallee“. Und gleich um die Ecke steht die Lok von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer unter Dampf.
Auch Potsdam hat sein „Beverly Hills“
Viele Schauspieler, Drehbuchautoren und Regisseure residierten in den 1920er- und 1930er-Jahren in prachtvollen Villen am nahen Griebnitzsee in Neubabelsberg. Zahlreiche Anekdoten ranken sich um die Bewohner dieses „Beverly Hills Potsdams“. Etwa um Star-Tenor und Schauspieler Richard Tauber. Der Publikumsliebling und „König des Belcanto“ wurde 1933 von SA-Männern angegriffen, 1938 emigrierte er nach Großbritannien. Sein Schicksal teilten viele andere jüdische Künstler, die nach dem Machtwechsel auswanderten, ihre Häuser unter Wert verkaufen mussten – und oft trotzdem keinen Pfennig sahen. Propagandaminister Goebbels hatte die Filmstudios zur Chefsache gemacht, er nahm Einfluss auf Inhalte und Personen. Dabei ging es nicht nur um Politik: Viele Frauen wandten sich an ihn für einen Filmvertrag. Goebbels machte damals als „Bock von Babelsberg“ von sich reden.
Brigitte Horney dagegen war unempfänglich für seine Reize. Der Jungstar profitierte zwar auch von der Arisierung Neubabelsbergs, bewahrte sich jedoch politische Geradlinigkeit: So gewährte Horney ihrem Freund Erich Kästner Asyl, der unter dem Dach ihres Anwesens im englischen Landhausstil das Drehbuch zu „Münchhausen“ schrieb. Mit heimlicher Erlaubnis Goebbels, denn der Schriftsteller war eigentlich mit Berufsverbot belegt.
Nach dem Krieg wurde Neubabelsberg als Grenzgebiet zwar streng überwacht, doch die Filmhochschule durfte trotzdem rund ein Dutzend der Villen nutzen. Bis zur Wende durchliefen hier mehr als 2.000 Filmschaffende die Ausbildung.
Nach der Wiedervereinigung musste die Uni schließlich nach und nach weichen – für das Revival des neuen Potsdamer „Beverly Hills“. Sebastian Stielke hat noch keine Villa am Griebnitzsee – dafür gab er letztes Jahr seinen Einstand in der zweiten Staffel von „SOKO Potsdam“. „Das war überfällig für mich als Potsdamer Schauspieler“, sagt er. Wenn einmal kein Dreh oder Theater-Engagement ansteht, spricht er Hörbücher ein. Stielke lacht: „Da kann ich dann auch mal den Latin Lover geben – vor der Kamera würde mir doch keiner ein gehauchtes ‚Hey, Baby!‘ abnehmen.“