Durch Lockdown und Corona-Regelungen war Berlins Tanzszene über Wochen hinweg nahezu lahmgelegt. Mittlerweile sind einige Spielstätten wieder in die Normalität gestartet – zwischen analogem und digitalem Spielraum.
Ein verwunschener Ort. Von Efeu umrankte Hausfassaden eines Hinterhofes bilden die Kulisse des Tanzstückes „Meantime". Inmitten alter Kastanien ragen mehrere Meter hohe Bambusstangen gen Himmel. Orientierung, Struktur vermittelnd laden sie den Zuschauer ein, seinen Platz zu finden. Über getanzte Körperminiaturen und Klangkunst-Installationen wird er auf eine Zeitreise mitgenommen, auf eine mythologische Erkundung durch museale symbolhafte Bilderwelten. Ein archaisches Vogelwesen, der Körper mit Erde befleckt, zeigt sich in dem zaghaften Versuch, sich aus einem käfigähnlichen, über dem Kopf breit gespannten Gestell von schwarzem, langfransigem Haar zu befreien.

Im Saal eine Menschengestalt, die sich auf einer glitschigen Tischebene hin und her wälzt, sich windend, immer wieder fallend, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. Ein Kampf, ein vergebliches Suchen der eigenen Körperachse, des Körperzentrums, der Aufrichtung. Verzweifelt, panisch, verwirrt – in alle Richtungen greifend, als ob es keine Richtung gäbe. Eine andere Figur, deren Arme von zwei langen Hörnern eingezwängt sind, versucht, sich dem schlangenförmigen Würgegriff zu entziehen. Doch die Hörner setzen sich weiter fest. Sie werden zu abwehrenden Waffen. Grollender Donner. Stürme. Peitschender Regenguss. Die Hörner lassen sich nicht ablegen. Trotz wütender, mit den Händen drohender, mit Füßen stampfender Gebärden.
Nebenan die knallrote, mit Luft aufgeblasene „Dickmadame", die sich zart wiegt, biegt und weitet, sich aus den Körpergrenzen heraus Raum nimmt, um Gleichgewicht bemüht. Ein Tanz im Dreivierteltakt, erst vorsichtig tastend von einem Bein auf das andere, sich wiegend, drehend, beschwingt und immer entschlossener sogar bis zum Flug ansetzend. Doch am Ende wird ihr die Luft entzogen.
Vor gut einer Woche hat die Halle Tanzbühne Berlin in Prenzlauer Berg ihre Spielzeit mit einem neuen, alternativen Aufführungsformat eröffnet, angepasst an die Corona-Hygienemaßnahmen.
Es ist die erste Aufführung des Tanzensembles „cie. toula limnaios" nach dem Lockdown. „Meantime" heißt das Stück. Doch was sind Zwischenzeiten? Was gestern war, gibt es nicht mehr. Das Morgen ist ungewiss. Befinden wir uns in einer Übergangsphase, in einer Zeit zwischen Abschied und Neubeginn?
„Der kleine, getanzte Parcours ist eine Art Wanderung, um das Jetzt anzunehmen, es als vorübergehend zu betrachten, um auch wieder Leichtigkeit und Weite zu sehen", betont die griechische Choreografin Toula Limnaios. „Das Tanzstück erzählt davon, wie wir die Isolation, die Einsamkeit erlebt haben. Die Miniaturen drücken aus, was die Distanz mit uns Menschen gemacht hat. Ich bin nicht der Meinung, dass Abstandsregeln soziale Entfremdung zur Folge haben müssen. Im Gegenteil: Wir müssen uns unterstützen, nah sein im Herzen. Auch ohne Umarmung. Für mich steht der Tanz weiterhin im Mittelpunkt, mit den Tänzern etwas kreieren, sich auseinandersetzen, sich reiben – alles, was uns menschlich macht."
Die Erfahrung der Isolation
Der Lockdown sei eine große Herausforderung für die Companie. „Doch wir wollten nicht in der Unsicherheit verharren, mussten handeln, weiter arbeiten, anfangs ohne zu wissen wofür. Bald sahen wir auch eine Chance, suchten nach neuen Wegen, um die Angst in ein positives Gefühl umzuwandeln. Ich habe meine Arbeitsweise geändert, das Training individuell auf Einzelproben umgestellt. Das war organisatorisch und logistisch sehr aufwendig und eine große Belastung. Unter Berücksichtigung aller Hygienemaßnahmen arbeiten wir seitdem an verschiedenen Aufführungsformaten. So ist das gesamte Gelände der Halle begehbar – vom Garten über den großen Saal bis in das Foyer des Hauses. Die vorgeschriebenen Abstände werden eingehalten und nur kleine Besuchergruppen zugelassen. Der Zyklus kann an jedem Abend innerhalb drei verschiedener Zeitfenster wie in einer Schleife von jeweils 21 Zuschauern besucht werden.

„Im Nachhinein kann ich sagen, so unsicher wir alle waren, brachte Corona auch so etwas wie einen Segen. Wir haben wirklich tolle Stücke geschaffen. In Ungewissheit auf eine nicht existierende Zukunft erlebten wir jeden Tag neu und schenkten uns gegenseitig diese wertvolle Zeit", so beschreibt es Limnaios. Ab Oktober wird die Tanzreihe „Tell me a better story" mit Solo- und Duo-Stücken zu sehen sein, die ebenfalls während der Zeit der Pandemie entwickelt wurde.
Im Jahr 2000 hatten Toula Limnaios und der Komponist Ralf R. Ollertz in der unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Turnhalle aus dem 19. Jahrhundert ihr Probenhaus gegründet, das seitdem auch vielen anderen Künstlern als Arbeitsort dient. Seit 2003 ist die Halle ein privates Theater mit 140 Sitzplätzen und hat sich als international geschätzte Bühne für zeitgenössischen Tanz etabliert. Toula Limnaios weiß ihre privilegierte Lage zu schätzen. „Wir haben institutionelle Förderung und Unterstützung vom Senat. Das erlaubt uns eine Kontinuität, sodass wir das ganze Jahr planen können."
Denn insgesamt hat die Corona-Krise Berlins freie Tanzszene wohl besonders hart getroffen – durch abgesagte Aufführungen und weggebrochene Gagen – wochenlang gab es noch nicht einmal gemeinsame Proben oder Tanztraining. Auch jetzt bleibt die freie Tanzszene trotz alternativer Lösungen wie Online-Aufführungen und Streamings fragil. „Alle hat es kalt erwischt", so bringt Simone Willeit, Geschäftsführerin der Uferstudios, der größten Berliner Tanzproduktionsstätte, die Situation auf den Punkt. Der zeitgenössische Tanz ist fast ausschließlich in freien Strukturen ohne feste Anbindung an subventionierte Häuser organisiert. Simone Willeit beklagt die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie auf die freie Tanzszene. Die Einnahmen seien gering, da nur eine begrenzte Zuschauerzahl zugelassen sei. Die Künstler in den Uferstudios seien selbst verantwortlich mit allem organisatorischen und finanziellen Aufwand. „Wir stellen nur Räume und Strukturen zur Verfügung, sind aber keine Veranstalter wie andere Theater in der Stadt. Doch es gab auch Unterstützung. Mit einem Förderprogramm für die Häuser konnten wir Desinfektionsmittel, Absperrbänder et cetera bezahlen, die Grundausstattung, um überhaupt in die Zukunft zu schauen. Den Tanzveranstaltern konnten wir die Mietpreise erlassen, gebuchte Ausfalltechniker und Abenddienste bezahlen." Die Stimmung der freien Künstler schwanke zwischen verhaltenem Optimismus und Panik.
Neue Formate und Diskussionsforen
Doch das Verständnis und die Rücksichtnahme untereinander seien sehr groß. „Ich glaube, dass wir noch längere Zeit mit der Pandemie leben müssen und hoffe, dass alle offen und neugierig bleiben", so Simone Willeit.
Ein hoher Schornstein ragt über den großen Hof der Weddinger Uferstudios. Ein denkmalgeschütztes Areal mit 16 großzügigen Studios, mehreren Büros und Ateliers. Gegenwärtig sind die Studios nicht so ausgebucht wie sonst. Wurden Masken früher als Requisit eingesetzt, sind sie heute Bedingung für die Proben in den Studios. Hier begegnen sich Künstler auf Abstand, zwischen ihnen Absperrbänder.
Die meisten Choreografen würden sich für ganz neue Formen der Ästhetik im Tanz entscheiden. Tanztheater in kleineren Gruppen. Ohne Berührung. „So bewegen sich die Tänzer mit größeren Abständen, Begegnungen werden nur angedeutet oder Metaphern für Begegnungen verwendet."
Das Wegfallen von Training, von Kursen und Unterricht, von Workshops wird zu einem existenziellen Problem. Immer wieder stellt sich die Frage, was geht und was nicht. Der Tanz ist stark an Präsenz, an soziale Momente gebunden und an Publikum. Die Variante des virtuellen Raumes wird als Alternative genutzt, wirkt jedoch mitunter steril.
So versuchten die Tänzer jetzt mit filmischen Mitteln die Szenen abzubilden, Momente lebendiger zu gestalten. Doch es sei niemals die 1:1-Abbildung wie in einer Live Aufführung, so die Erfahrung von Simone Willeit. „Es wird eine andere Art von Tanzkunst dadurch entstehen, dass sich die Tänzer nicht berühren dürfen. Wenn die Choreografie Berührungen vorsieht und die Tänzer dabei in körperlichen Kontakt kommen wollen, müssen sie zuvor getestet werden und ein negatives Testergebnis vorweisen, müssen dann in der fixen Probegruppe verbleiben, nur zu Arbeitszwecken zusammenkommen und sich ansonsten abschotten."

Simone Willeit verweist auf ein anderes Problem. „Das sind die internationalen Beziehungen. Davon lebt der Tanz. Sehr viele Tänzer kommen von außerhalb, leben in ganz verschiedenen Ländern. Inzwischen brechen ganze Gruppenkonstellationen auseinander, weil niemand mehr gut reisen kann. Auch Gastspiele fallen fast gänzlich weg. Das bedeutet enorme finanzielle Einbußen".
Ein Hoffnungsschimmer für den Bereich der freien professionellen Tanzszene ist das mehrteilige Hilfsprogramm, für das bis zu 20 Millionen Euro zur Verfügung stehen, das Künstlerinnen und Künstler, aber auch Produktionsstätten, Festivals und weitere Bereiche stärkt.
Tänzer auszubilden in Corona-Zeiten –
mit diesen Herausforderungen kämpft das Berliner HZT, das Hochschulübergreifende Zentrum für Tanz. Denn ein Nebeneinander in der Probe oder auf der Bühne sei unter den geltenden Abstands- und Hygieneregelungen schwer umzusetzen. Also digitale Unterrichtsformate für Fächer wie Tanz und Choreografie? „Wir haben viel ausprobiert von technischen bis hin zu ästhetischen Fragen. Die Studierenden entwickelten Ideen weitestgehend zuhause, allein. Aber lässt sich Bewegung allein durch Imagination herstellen – all das mussten wir überdenken", so formuliert es die Leiterin des HZT, Prof. Sandra Noeth. In den letzten Monaten sind auf diese Weise solistische Bewegungsszenen auf engstem Raum entstanden.
Bei all den Schwierigkeiten sieht Sandra Noeth durchaus auch positive Aspekte. „Das waren die regelmäßigen Kommunikationsformate, die wir in kleineren Gruppen bildeten, die einen guten Zusammenhalt und Austausch untereinander ermöglichten. So entstand auch eine starke Diskussionskultur. Das wollen wir beibehalten".