Die Pädagogik-Professorin Uta Hauck-Thum stellt dem deutschen Schulwesen ein schlechtes Zeugnis aus. Sie macht Vorschläge für grundlegende Reformen und erklärt, weshalb manchen Kindern das Lesen auf dem Bildschirm leichter fällt als auf dem Papier.
Frau Hauck-Thum, im Lockdown sind die meisten Schulen geschlossen. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich mit Fernunterricht zufriedengeben. Klappt das Lernen auf Distanz gut?
Über das ganze Land betrachtet kann man das nicht von allen Schulen behaupten. Die Bandbreite ist ziemlich groß. Es gibt Grundschulen, wo das Arbeitsmaterial für die Schülerinnen und Schüler draußen in Schachteln deponiert wird. Dort holen es die Eltern am Montagmorgen ab und legen die ausgefüllten Arbeitsblätter am Freitag zur Korrektur wieder rein. Andere Schulen sind da schon weiter und nutzen eine digitale Pinwand oder Lernplattform und halten mit den Schülern Videokonferenzen ab.
In vielen Teilen des Landes berichten Schüler und Lehrer von technischen Problemen mit den digitalen Lernplattformen. Entsprechend groß ist der Frust. Ist unter diesen schwierigen Bedingungen guter Unterricht überhaupt möglich?
Der ist tatsächlich nur sehr eingeschränkt möglich. Am guten Willen der Lehrerinnen und Lehrern fehlt es nicht. Die meisten Lehrkräfte haben bis zum zweiten Lockdown ihre Kompetenzen für digitalen Unterricht deutlich erweitert. Auch die Politik hat reagiert und die meisten Schüler mit Tablets oder anderen Leihgeräten ausgestattet.
Trotzdem beurteilen Sie den digitalen Unterricht hierzulande als mangelhaft. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Das Problem in der aktuellen Situation besteht darin, dass man versucht, Fernunterricht so zu gestalten wie in normalen Zeiten, wenn der Lehrer im Klassenraum vor den Schülern steht. Unterricht muss aber grundsätzlich neu gedacht werden, nämlich gemäß der sogenannten Kultur der Digitalität, die im Bildungswesen aktuell kaum eine Rolle spielt.
Verstehe ich Sie richtig: Überlastete Server sind zwar ein großes Ärgernis, aber nicht der Kern des Problems?
Richtig. Die Schulen und Lehrer haben zu lange an einem veralteten Unterrichtskonzept festgehalten: Die Lehrperson ist die zentrale Wissensvermittlerin, sie gibt entsprechende Anweisungen, die ich als Schüler umzusetzen habe. Es gibt einen Wochenstundenplan, der die Fächer und Lerninhalte vorgibt. In einer digitalisierten Welt kann ein solches Konzept nicht mehr funktionieren. Ein moderner Unterricht muss fächerübergreifend gestaltet sein und die Kinder fit machen für die Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Das klingt für mich so, als ob Sie das Schulwesen auf den Kopf stellen wollen.
In gewisser Weise schon. Die Kinder müssen in der Schule echte Bildungserfahrungen machen können. Das bedeutet vor allem mehr Projektarbeit. In der Gruppe können sie interagieren und gemeinsam kreativ werden. Gesellschaftlich relevante Themen sollten viel stärker als bisher in den Blick genommen werden. Nehmen Sie zum Beispiel den Klimaschutz. Während des Lockdowns im April 2020 führte eine unserer Münchner Projektschulen das Projekt „Wir machen Klima“ durch. In Gruppen beschäftigen sich die Kinder aus zwei dritten Klassen mit den Themen Plastikvermeidung, Mülltrennung und Strom sparen. Ihre Beobachtungen, die sie zu Hause gemacht hatten, dokumentierten sie mit Texten, Fotos, Zeichnungen und Filmen. Am Schluss präsentierten sie die Ergebnisse vor der Klasse per Videokonferenz.
Kommt die Vermittlung von schulischen Grundkompetenzen wie Rechnen, Lesen und Schreiben im Projektunterricht nicht zu kurz?
Überhaupt nicht. Die zentralen Kulturtechniken werden nicht abgeschafft, sie verändern sich nur in der Kultur der Digitalität. Im Rahmen des Klimaprojektes lasen und schrieben die Kinder unterschiedliche Texte. Dazu recherchierten sie im Internet und stellten ihre gewonnenen Erkenntnisse in Form von Erklärfilmen vor. Zusätzlich arbeiteten sie mit thematisch passenden Sachaufgaben im Mathematikunterricht.
Wie wichtig ist für Sie der schulische Leistungsgedanke?
Wenn damit nur Selektion gemeint ist, sehe ich das kritisch. Selektion, so wie sie heute an den Schulen praktiziert wird, fördert die soziale Spaltung. In keinem anderen europäischen Land ist der Schulerfolg so stark vom Bildungsgrad des Elternhauses abhängig wie hierzulande. Im deutschen Bildungswesen herrscht eine große Chancenungleicheit. Um hier eine Änderung herbeizuführen, müssen wir uns vom Selektionsgedanken verabschieden. Die Freude am Lernen muss im Vordergrund stehen.
Werden leistungsstarke Schüler dadurch nicht eher benachteiligt?
Nein. Ich fordere weder die Abschaffung von Prüfungen noch von Schulnoten. Für die Leistungsbeurteilung darf aber nicht ausschließlich Wissen herangezogen werden, das in Tests abgefragt wird. Im Vordergrund muss der Lernprozess stehen, das bedeutet die kontinuierliche Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand. Es bringt nichts, wenn man einer Schülerin mit einer Rechtschreibschwäche ständig schlechte Noten erteilt. Das wäre ungerecht, weil vom Kind ein Resultat verlangt wird, das es nie liefern wird. Stattdessen sollte die Schülerin dazu ermuntert werden, sich eingehend mit dem Text und den Schreibfehlern zu beschäftigen. In die Gesamtnote sollten individuelle Leistungsfortschritte eines Kindes einfließen.
Die Pandemie würde die digitale Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen, heißt es oft. Sie vertreten dagegen die Ansicht, dass die Digitalisierung zu mehr Chancengleichheit führen kann.
Ja, unter gewissen Voraussetzungen können Kinder ihre Lesefähigkeiten stärker entwickeln, wenn sie Bücher digital am Tablet lesen statt auf dem Papier. Mit multimedialen Elementen, das heißt mit Bildern, Tönen und kurzen Filmsequenzen, werden vor allem leseferne Kinder zum Lesen angeregt.
Im Zusammenhang mit dem Lockdown ist oft die Rede von einem „verlorenen Schuljahr“ oder sogar von einer „verlorenen Generation“. Teilen Sie diese Befürchtung?
Ich will nicht schwarzmalen. Zweifelsfrei ist es für alle ein schwieriges Schuljahr. Vor allem zu Beginn der Pandemie bestand die Gefahr, dass Schüler abgehängt werden, weil sie zu Hause über keinen Internetzugang verfügen. Im ersten Lockdown war fast ein Drittel der Kinder teils über Wochen nicht erreichbar. Durch das Verteilen von Geräten hat sich dieses Problem zum Glück deutlich entschärft. Allerdings fällt die Unterstützung durch die Eltern nach wie vor sehr unterschiedlich aus. Sorgen machen mir auch die psychischen Folgen des Lockdowns. Viele Kinder und Jugendliche leiden sehr unter der Unsicherheit und der Freiheitseinschränkungen. Sie können ihre Freunde nicht mehr treffen und machen sich Sorgen um ihre schulische und berufliche Zukunft. Ein strukturierter Tagesablauf kann da für Orientierung sorgen.