FORUM-Autorin Barbara Schaefer lebte vor 24 Jahren einige Wintermonate in Ostgrönland. Nun ist sie zurückgekehrt nach Tasiilaq, einen weltabgeschiedenen Ort, wo Urlauber noch das echte Abenteuer finden können.
Mit jedem Flapp-Flapp-Flapp des Helikopters rückt das Inlandeis näher. Hinter uns liegt der bleigraue Nordatlantik, unter uns die Küste Ostgrönlands, umrahmt von Packeisresten. Aus der weißen Landschaft ragen Nunataks, schwarze Felsberge. Tasiilaq kommt in Sicht, bunte Häuser an einem zugefrorenen Fjord. Für Reisende ist die Anreise der abenteuerliche Auftakt ihres Aufenthaltes; heute genauso wie vor einem Vierteljahrhundert.
Vor einem Vierteljahrhundert habe ich hier einige Wintermonate verbracht. Ich wollte erfahren, wie man an einem so extremen Ort lebt. So weltabgeschieden, so unwirtlich. Ich wohnte im „Roten Haus", damals eine Pension mit Ofenheizung, wenigen Betten, ohne fließendes Wasser. Und der Toilettenkübel wurde einmal in der Woche abgeholt. Robert Peroni, heute 74, Südtiroler, Bergsteiger und Grönland-Durchquerer, hatte das Haus gerade eröffnet; er führt es bis heute. Peroni wollte in dieser abgeschiedenen Ecke der Welt nachhaltigen Tourismus anstoßen, er hat viel bewirkt, und viel falsch gemacht hat er auch.
Die Kinder des Ortes klopften täglich bei mir an, ich kochte Nudeln, manchmal spielten zwei Jungs Schach. Und wenn das Feuer im Ofen besonders gut brannte, hatte einer der Jugendlichen einen Adorno oder Thomas Mann hineingeworfen. Wie ich später feststellte. Mir fiel nur auf, dass sie feixend auf dem Sofa saßen. Ich hatte dicke Bücher eingepackt, Adornos „Dialektik der Aufklärung" und Manns „Buddenbrooks", in einer romantischen Vorstellung von langen Leseabenden, aber ich musste Wasser holen und Holz hacken und manchmal nahm mich jemand mit dem Hundeschlitten mit. Wahrscheinlich hätte ich die Bücher ohnehin nicht gelesen.
Nur vier Monate im Jahr eisfrei
In den Straßen von Tasiilaq riecht es heute nicht mehr nach gekochtem Seehund. Vielleicht hat es damit zu tun, dass es nun einen zweiten großen Supermarkt gibt. Dort gibt es Fisch und Fleisch tiefgefroren, und Pommes und Pizza auch. Und man hört keine Hunde mehr. Das Heulen und Kläffen der Schlittenhunde hing Tag und Nacht über der Stadt. Jetzt liegen sie am Ortsrand, am Eingang zum „Blomsterdalen". Das nun nicht mehr so heißt. Aus dem „Blumental" wurde Naasuliartarpimmut: der Ort, an dem man Blumen sammelt. Seit etwa 15 Jahren tragen Tasiilaqs Straßen grönländische Namen. Ein äußerliches Zeichen für das gewachsene Selbstbewusstsein des Landes. Die Autonomiebestrebungen Grönlands erstarken mit dem Klimawandel: So hob das grönländische Parlament 2013 das Verbot der Gewinnung von Bodenschätzen auf.
Die Folgen sind auch dem Feuerwehrchef aufgefallen. Hendrik Andreassen, Grönländer, 49, mit schwarzen Stoppelhaaren, arbeitet seit 1990 bei der Feuerwehr an Grönlands Ostküste. Er sagt, „ich sehe viel mehr Leute, die professionell Mineralien oder was auch immer suchen." Naturschützern graust es vor der Vorstellung, dass nun nach seltenen Erden gebohrt werden kann. Grönländer aber wollen sich nicht mehr so viel von außen vorschreiben lassen.
Wovon lebt ein Ort, dessen Hafen nur vier Monate im Jahr eisfrei ist? In Tasiilaq leben rund 2.000 Einwohner, 500 mehr als damals, ein Drittel ist unter 18 Jahre alt. Die jungen Leute verlassen ihre abgelegenen Dörfer. Dorthin kommt man nur mit dem Helikopter oder im Sommer mit dem Boot, im Winter mit Hunde- oder Motorschlitten. Wie jede Gemeinde ist auch Tasiilaq eine Art Perpetuum mobile. Man lebt davon, dass man hier lebt – und Steuern bezahlt. Es gibt Verkäufer und Verwaltungsangestellte, Lehrer und Ladenbesitzer, Bauunternehmer, Ärztinnen und noch immer Männer, die mit einem Güllewagen herumfahren und aus den Häusern die Kübel holen.
Und wie leben die Menschen, die ich damals kannte? In der neuen Mülldeponie zeige ich einigen Arbeitern alte Fotos. Einer lacht und zeigt auf einen dünnen Jungen. Das sei er. War das einer der Schlingel, die meine Bücher verfeuerten? Ich frage nach Kristiane. Was sie mir als 18-Jährige erzählt hatte, ließ mir die Haare zu Berge stehen. Als sie sechs war, kam sie ins Kinderheim, weil die Eltern soffen. Mit 13 war sie das erste Mal schwanger. Ihr Bruder hatte sich umgebracht. In einer hellen Nacht ging ich mit ihr spazieren. Unterm Nordlicht glänzten in der Bucht die Flanken eines Eisbergs, ein Caspar-David-Friedrich-Bild, zum Malen schön. Aber Kristiane sagte: „Ich bin’s so leid, all das die ganze Zeit zu sehen." Kristiane ist weggezogen, sie lebt in Dänemark.
Ausflüge mit dem Helikopter
„Alkohol und Selbstmord – andauernd kommen Journalisten und schreiben darüber", sagt der Feuerwehrchef Andreassen. Natürlich gebe es diese Probleme, sagt er, aber es gehe auch viel voran, so haben junge Geschäftsleute einen Entrepreneurs-Club gegründet. Und er hat sich als Coach ausbilden lassen. „Die Menschen sind verschlossen, sie sehen keinen Ausweg, und dann bringen sie sich um. Ich bleue ihnen ein, dass es für alles Ansprechpartner gibt."
Tourismus bringt Geld und Abwechslung nach Tasiilaq. Peronis „The Red House" wurde ein Hotel mit 55 Betten, Duschen und Toiletten. 80 Einheimische arbeiten hier. Peroni tischt so lokal wie möglich auf. An einem Abend serviert er Mattak, schwarze Walhaut mit Speck. Es schmeckt leicht nussig, ist aber unglaublich zäh. Als gestreifter Snack, kleiner als Gummibärchen geschnitten, kriegt man es runter. Mattak war früher als Grundnahrungsmittel wichtig, es besitzt eine höhere Konzentration an Vitamin C als Zitrusfrüchte. Zitronen und Orangen gibt es bis heute selten: Am 4. Juni legt das erste Schiff nach dem Winter an, das Datum kennt jeder in der Stadt. Dann werden die Lagerhallen aufgefüllt. Im Winter kommt nur wenig Nachschub per Flugzeug aus Island und weiter mit dem Helikopter von Kulusuk, weil Tasiilaq noch immer keinen Flughafen hat.
er Flughafen. Das gäbe Arbeitsplätze. Alle reden über den Flughafen, aber keiner glaubt mehr so recht daran. Mike Nicolaisen, 44, der Besitzer des „Hotels Angmagssalik", das schon 1973 eröffnet wurde, hofft noch darauf. Nicolaisen beherbergt „Abenteuer-Urlauber, 60 plus". Die machen Ausflüge mit Helikopter, Hundeschlitten und Boot und haken dann Grönland auf ihrer Weltkarte ab.
Zu Peroni kommen Wander-Gruppen. Und die Arktis-Süchtigen, die Wahnsinnigen. So wie Elaine und Dan Vardamis aus Colorado. Das junge Paar will das 1,7 Millionen Quadratkilometer große Inlandeis überqueren. Sie sind wildniserprobt, ihre Pulkas, die flachen Lastschlitten, wiegen je 70 Kilo, vor Eisbären haben sie weniger Angst als vor dem Piteraq, einem Höllensturm in Ostgrönland. Bevor das Paar aufbricht, erklärt Peroni ihnen, wie bei drohendem Sturm ein Schneewall um die Zelte gebaut werden muss. Dan Vardamis schaut Peroni skeptisch an und fragt: „Hast Du das Inlandeis mal überquert?" Peroni lacht und sagt: „Ich bin 13-mal drübergelaufen. Du musst dich anstrengen, wenn Du mich einholen willst."
In seinen Anfangsjahren hatte Peroni eine Stiftung in einem winzigen Dorf im Osten gegründet. Das sei sein größter Fehler gewesen, gesteht er. Er sei aufgetreten als derjenige, der Geld bringt und den Grönländern sagt, wo es langgeht im Tourismus. „Das ist das Falscheste, was man machen kann." Später habe er es mit Aufklärung versucht, ihnen Beispiele aus Tibet und Nepal erzählt, „wie ihr euch dann entscheidet, ist es richtig, denn das ist euer Leben".
Ein klassisches Ausflugsprogramm ist die Tour mit dem Hundeschlitten nach Tiniteqilaaq. Dort spielen die Kinder den ganzen Nachmittag draußen im Schnee, rutschen von Hausdächern, klettern auf den haushohen Trinkwassertank. Der Lehrer teilt meine Begeisterung über die aktiven Kinder nicht. „Viele wollen nicht nach Hause, weil es da nicht gut ist", sagt er. Es gebe durchaus Grönländer, die keinen Alkohol trinken, aber in vielen Familien sei es ein Problem.
Alkohol kann man im Supermarkt von 9 bis 18 Uhr kaufen, separat hinter einem blauen Vorhang. Es gibt nur Bier und Wein; seit 2008 darf in Tasiilaq nichts Hochprozentiges ausgeschenkt werden. Das hat die Hauptstadt Nuuk so für Ostgrönland angeordnet. Ein Umstand, der den Hotelier Nicolaisen ärgert. „Als wären wir Ostgrönländer keine Erwachsenen, die das für sich selbst entscheiden könnten."
Der Einfluss des Alkohols auf das Gemeinwesen sei komplex, sagt Lydia Helms, Ärztin im Krankenhaus und hörbar eine Norddeutsche. „Das Feiern hat eine soziale Funktion. Am Lohnwochenende ist dann schon mal das ganze Geld weg – ‚aber hey, wir hatten es doch schön‘". Helms kam für zwei Monate, und blieb sieben Jahre, bislang. Sie sei nun auch Geburtshelferin und Hausärztin, sagt die Chirurgin. „Man begleitet Familien lange." Die Herzenswärme der Grönländer, ihre emotionale Großzügigkeit und die Offenheit, wie sie Fremde aufnehmen, das rühre sie. Helms betont, Grönland sei kein Entwicklungsgebiet, sondern ein zivilisiertes Land.
Was mich damals in Tasiilaq faszinierte, ist bis heute gleich geblieben: Die Menschen leben in normalen, meist ziemlich überheizten Häusern, sie sind über virtuelle Kanäle noch viel mehr an die Welt angebunden als zuvor. In den Straßen spazieren die jungen Mädchen mit neuesten Frisuren, Jungs rasen auf Mountainbikes die steilen Hügel hinab. Babys sind so dick eingepackt in Schneeanzüge, dass ihre Arme waagrecht abstehen. Paare halten Händchen oder sind untergehakt, immer, jeden Alters.
Doch jenseits der zwölf Kilometer Straße von Tasiilaq herrscht die reine Wildnis. Im eiskalten Wasser kann niemand lange überleben. Wenn der Piteraq heranrauscht, kann niemand vor die Türe. Und schon für eine kleine Schneeschuhtour ins Blomsterdalen, genauer: nach Naasuliartarpimmut, drückt mir Peroni ein Gewehr in die Hand. Der Eisbären wegen.