Für Herbert Nitsch, einen der erfolgreichsten Freitaucher der Welt, ist das Vordringen in die Tiefen des Ozeans ohne Sauerstoff seine größte Leidenschaft. Er hörte selbst dann nicht damit auf, als er vor Jahren nach einem gescheiterten Rekordversuch für einige Zeit zum Pflegefall wurde.
Bei Herbert Nitsch geht es nicht ohne. „Ich kann mich nicht an viele Tage erinnern, an denen ich nicht irgendeine Art von Sport getrieben habe – bis heute", sagt der 51-jährige Österreicher. Der Sport, den er mit größter Leidenschaft betreibt, hat allerdings nichts mit einer lockeren Runde Joggen gemeinsam. Nitsch ist Freitaucher. Das atemlose Tauchen kann man als Hobby betreiben oder man kann damit an den Rand des Vorstellbaren gehen. So wie Nitsch es tut. Ohne das Tauchen kann er nicht leben, sagt er. Selbst nach seinem folgenschweren Unfall vor neun Jahren hat er sich wieder ins Leben und ins Wasser zurückgekämpft.
Die Grundlage des Freitauchens oder Apnoetauchens ist es, mit einem Atemzug so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben. Freitaucher wie Nitsch berichten von unbeschreiblichen Momenten in der Unterwasserwelt. Ohne Ausrüstung schwerelos in ein anderes Universum abzutauchen, das beschreibt er als Gefühl großer Freiheit. „Es ist herrlich, mit Delfinen und Robben zu spielen oder einen vorbeiziehenden Tigerhai zu beobachten", sagt er. Je länger unter Wasser, desto besser. Der aktuelle Weltrekord beim Zeittauchen ohne Sauerstoff liegt für Frauen bei 9:02 Minuten und für Männer bei 11:35 Minuten. Für Untrainierte ist das unvorstellbar. Bei einigen wird es beim Luftanhalten schon unter einer Minute eng. Andere schaffen es auf Anhieb vielleicht sogar länger und erkennen ein verborgenes Talent.
So ist es auch bei Nitsch. Zum Freitauchen kommt er durch Zufall. Als er vor über 20 Jahren mit Freunden zu einer Tauchsafari nach Ägypten aufbricht, verschlampt die Airline seine gesamte Tauchausrüstung. Nitsch lässt sich den Urlaub nicht verderben und taucht stattdessen ohne Pressluft nur mit Schnorchel und Gummiflossen. „Nach einer Woche fragte einer meiner Freunde, wie tief ich denn schnorcheln könne. Wir testeten es, und ich tauchte ungefähr 32 Meter tief", erinnert er sich. Umso größer ist die Überraschung, als der Freund ihn nach der Rückkehr anruft und informiert, dass ihm damit nur wenige Meter bis zum damaligen österreichischen Rekord im Freitauchen fehlen. „Was ist denn Freitauchen?", fragt Nitsch damals noch. Ein gutes Jahr später hat er bereits einen neuen Weltrekord im Tieftauchen aufgestellt. Es sollte nicht der einzige bleiben.
Der Tiefenrausch ist eine Gefahr
Beim Freitauchen gibt es verschiedene Disziplinen. Eine davon ist das Zeittauchen, bei dem es darum geht, so lange wie möglich mit einem Atemzug unter Wasser zu bleiben. Außerdem gibt es das Tieftauchen, das die Königsdisziplin von Herbert Nitsch ist. Ziel des Tieftauchens ist es, so weit wie möglich nach unten in die Dunkelheit und Tiefe des Ozeans zu gelangen. Neben der Fähigkeit, möglichst lange ohne Sauerstoff auszukommen, spielen vor allen Dingen auch die Auswirkungen des immer weiter steigenden Wasserdrucks eine Rolle. Ab ungefähr 30 Metern kann beim Taucher der sogenannte Tiefenrausch einsetzen. Der Tiefenrausch kann tatsächlich zu Euphorie, aber auch zu Angstgefühlen und Wahrnehmungsstören führen. Ursache dafür ist eine Stickstoffvergiftung im Körper, die durch den Überdruck unter Wasser ausgelöst wird. Eine andere Gefahr lauert nicht in der Tiefe, sondern umgekehrt beim Auftauchen. Wer zu schnell wieder nach oben kommt, etwa um dem Tiefenrausch zu entgehen, riskiert die Dekompressionskrankheit. Verringert sich der Druck durch zu hastiges Auftauchen schnell, können sich Gasblasen in Organen und Gefäßen bilden. Die Folge sind lebensbedrohliche Embolien im Körper.
Nach seinem Tauchurlaub Ende der 1990er-Jahre in Ägypten eröffnet sich für den damals 29-Jährigen eine neue Welt. Als ohnehin ehrgeiziger und disziplinierter Sportler widmet er sich fortan dem Freitauchen, das definitiv kein Breitensport ist und gemeinhin als Extremsportart gilt. Er lernt zu verstehen, wie der Atemreflex funktioniert, was im Körper ohne Sauerstoff passiert und wie sich Tiefe und Wasserdruck auf den Menschen auswirken. Und natürlich trainiert er. „Freitauchen auf höchstem Niveau ist Top-Sport", erklärt Nitsch. Also hält er sich mit Ausdauertraining, Krafttraining und Übungen für Lunge und Zwerchfell fit. Schnell wird er immer besser und knackt mit Anfang 30 seinen ersten Weltrekord, in den folgenden Jahren wird die Liste mit den Bestleistungen immer länger. So schafft er es, als erster Mensch überhaupt mit eigener Kraft mehr als 100 Meter tief zu tauchen. Einige Jahre später sind es 124 Meter. Das sind 30 Meter mehr, als die Freiheitsstatue misst. Mehr als zehn Jahre lang stellt Nitsch auf diese Weise einen Rekord nach dem anderen auf, gleichzeitig arbeitet er weiter in seinem Beruf als Airline-Pilot. Den hängt er 2010 endgültig an den Nagel und konzentriert sich komplett auf das Tieftauchen. Eine Disziplin hat es ihm zu diesem Zeitpunkt besonders angetan. Sie heißt „No Limit" und führt den Menschen ohne Schutz in kaum vorstellbare Tiefen. Während der Rekord von 124 Metern ohne Hilfsmittel aufgestellt wurde, sind beim No-Limit-Tauchen Hilfsmittel erlaubt, um in die Tiefe zu gelangen, beispielsweise der Tauchschlitten, eine Art offene Kapsel, in der der Taucher in die gewünschte Tiefe befördert wird. Bei dieser Art des Freitauchens geht es nicht nur um Ausdauer, sondern auch um Körperbeherrschung, Disziplin und mentale Stärke. Auch hier stellt Herbert Nitsch einen Rekord auf, der bis heute ungeschlagen ist. Im Jahr 2007 schafft er es bis in eine Tiefe von 214 Metern.
Beim Tauchgang eingeschlafen
2012 möchte er seinen eigenen Rekord überbieten. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch diesen Tauchgang bezahlt er fast mit seinem Leben. Er erreicht 253 Meter, aber 15 Minuten nach dem Tauchgang setzen erste Symptome von Dekompressionskrankheit ein. Videoaufnahmen zeigen, dass er beim Auftauchvorgang durch den Tiefenrausch vorübergehend eingeschlafen ist, weshalb er es versäumt, in 20 Meter Tiefe einen wichtigen Dekompressionsstopp einzulegen. Er taucht also ohne Zwischenhalt zu schnell auf. Mehrere Gehirnschläge, Intensivstation und Koma sind die Folgen. Aus dem sportlichen Mann wird ein Pflegefall. Die Ärzte prognostizieren, dass er lebenslang pflegebedürftig und an den Rollstuhl gefesselt bleiben wird. Heute sagt Nitsch über die Wochen nach seinem Unfall: „Mein Gehirn operierte im Grunde auf dem Niveau eines Goldfisches." Er erinnert sich an nichts und kann nichts mehr. Mit der Zeit versteht er aber seine Lage und erkennt, dass die Behandlung nicht auf einen Athleten zugeschnitten ist, sondern auf Senioren mit Schlaganfall. Gegen den Rat seiner Ärzte und seiner Familie verlässt er das Krankenhaus in dem Wissen, dass er seinen Körper und seinen Geist besser versteht als irgendjemand sonst. „Ich nutzte alles, was ich als Freitaucher gelernt hatte und stellte meine eigenen Routinen zusammen, um wieder gesund zu werden." Und der Erfolg gibt ihm recht: „Ein halbes Jahr später konnte ich wieder laufen. Ein weiteres halbes Jahr später hatte ich mein volles Gedächtnis zurück. Und noch ein weiteres Jahr später tauchte ich so tief wie bei einigen meiner Weltrekorde." Heute hat er noch immer Koordinationsprobleme an Land. Aber beim Freitauchen im Ozean fühle es sich an, als sei nie etwas passiert, sagt er.
Mit seinem Wissen heilte er sich selbst
Nitsch macht weiter, weil er gar nicht anders kann. Das Tauchen ist für ihn so wichtig wie Essen und Schlafen. Dass das Freitauchen als Extremsportart gilt, gefällt ihm nicht. Er ist der festen Meinung, dass man jede Sportart auf eine sichere Weise betreiben kann, solange man sich gut vorbereitet, die richtigen Maßnahmen ergreift und vorausschauend plant. Die Gefahr lauert für ihn vielmehr an anderer Stelle. „In ein Büro zu gehen, um von 9 bis 17 Uhr zu arbeiten, halte ich für einen Extremsport, denn das würde mich definitiv umbringen." Damit meint er auch die Tatsache, dass jedes Jahr viele Menschen aufgrund eines ungesunden Lebensstils sterben, ohne den wichtigen Zusammenhang zu ihrer eigenen Gesundheit zu erkennen.
Von der Angst vor seinem Sport hält Herbert Nitsch daher nicht viel. Weder von der Angst von den Menschen, die sich um ihn ängstigen, noch von der eigenen Angst. Auf die Frage, ob es nicht doch etwas gibt, das ihm Angst macht, antwortet er dennoch sehr konkret: „Ich habe Angst in der Zukunft wegen der menschlichen Dummheit und Gier in einem Ozean ohne Lebewesen zu tauchen."