„Resonanz der Realitäten" – das ist der Titel einer Ausstellung mit Virtual-Reality-Kunstwerken im Berliner Haus am Lützowplatz. Hier kann man in unterschiedlichste virtuelle Welten ein- und abtauchen.
Eine futuristische Stahltreppe führt über ein Fenster ins Innere des „Hauses am Lützowplatz" (HaL). Die Räumlichkeiten des 1960 gegründeten Kunstvereins für zeitgenössische Kunst wirken hell und bürgerlich. Umso intensiver erlebt man die über die Fläche verteilten „VR-Experiences-Stationen". Fünf Stipendiatinnen und Stipendiaten präsentieren hier im Rahmen des VR-Kunstpreises der Deutschen Kreditbank (DKB) ihre Arbeiten – entführen uns in digitale Paralleluniversen. Sie wurden unter mehr als 100 Bewerbern ausgewählt, erzählt Kuratorin Tina Sauerländer.

Bei jedem Insel-Exponat liegen schwarze maskenartige Konstrukte bereit, die an Taucherbrillen erinnern: Türöffner in andere Welten. Mit VR-Brillen taucht man in die doppelbödige Realität, die „heute hinterfragen soll, in welcher Welt wir morgen leben wollen", erklärt Tina Sauerländer, die schon seit zehn Jahren das VR-Kunst-Cluster begleitet. In ihrer Vita findet sich ein langes Register mit internationalen Stationen. Im „Haus der Elektronischen Künste" in Basel aber auch in Barcelona, New York oder Montreal habe dieses Format großen Anklang gefunden. In Deutschland hatte das Goethe-Institut das erste Mal Interesse bekundet. Bislang gebe es erst wenige Festivals, sagt die Kuratorin, wie die „Ars Elektronica" in Linz (seit 1979) oder die Berliner „Transmediale" (seit 1987). VR werde wie alle digitalen Kunstformen aus dem Kunstkanon ausgegrenzt, sei höchst selten in Museen zu finden. „Am Ende geht es um die Abbildung von Träumen, Visionen und Illusionen. So wie sich ja auch die Malerei Jahrhunderte lang daran versuchte, die perfekte Illusion auf zweidimensionalen Flächen zu erzeugen. Durch VR können wir nun darin verschmelzen", so die Kuratorin.
Also „Abtauchbrille" aufgesetzt und hinein ins erste Exponat. „Poly Mesh" vom Berliner Künstlerduo Banz und Bowinkel zieht „in ein interaktives, virtuelles Kammerspiel in sieben Akten – Avatare agieren in einer dystopischen Welt. Wohlgeformt sind die Körper der standardisierten 3-D-Protagonistinnen. Sie wirken wie ein unkoordinierter Catwalk, der hektisch und wie ferngesteuert durch ein Gameuniversum marschiert. Doch die Betrachter, so zeigt sich, haben Einfluss auf das Geschehen in diesem virtuellen Universum – schließlich wird es zusammenbrechen. Mit einem Joystick navigiert man sich zwischen den Avataren, die sich bedrohlich nähern, am Ende fallen. Eine-Raum-in-Raum-Kamera holt die hellen Räume wieder ins Bild – Screens übertragen den Blick des Betrachters – ein fließender Übergang zurück in die Wirklichkeit. Zeit die Brille abzustreifen und weiterzuziehen.
Weiter geht es zum nächsten feministisch inspirierten Exponat, „Artificial Tears" (2019) von Evelyn Bencicova. Die slowenische Künstlerin setzt sich kritisch mit den kulturell tradierten, stereotypen Vorstellungen des Mannes als „Gottgleicher Schöpfer" und der Frau als Dienstleistungs-Maschine auseinander. Ihre Fotografien zeigen detailstarke Kompositionen, die sich durch eine „ästhetische Sterilität auszeichnen". „Die Grenzen zwischen Realität, Erinnerung und Imagination sollen sich verwischen", so der Ansatz der erst 21-jährigen Foto-VR-Künstlerin. Ihre Arbeiten hat sie bereits weltweit in Galerien und Museen wie dem Royal Opera House, dem Berghain oder der Kunsthalle Basel ausgestellt. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Fotografie und als Artdirection, darunter die Hasselblad Masters. Gekonnt zieht sie den Betrachter in ein „Labyrinth ihrer Vorstellungskraft". Ihre Protagonistin mit stahlblauen Augen, weißblond-akkuratem Haarschnitt und zartblauem Dienstmädchenkleid hat etwas beklemmend Dressiertes und klont sich in einem klaustrophobischen Raum. Durch die pastellene Farbgebung der Fotoinstallation fühlt man sich an der Schwelle eines „Alice in Wonderland"-Comicstrips. Im Film begleitet man die sich von Zwängen befreiende Kunstfigur durch eine Art Bügelzimmer. Kabel durchdringen das Szenario wie Venen. Ob die Protagonistin am Ende durch die lichtdurchflutete Tür aus ihrem virtuellen Gefängnis fliehen wird, bleibt offen.
Realität, Erinnerung und Imagination
Eine Kontrastarbeit liefert der in Berlin lebende Österreicher Armin Keplinger mit „THE ND-Serial" (2020). In fünf in sich geschlossenen VR-Erfahrungen erkundet er Wechselwirkungen, Überschneidungen aber vor allem eine Überführung des anlogen Raumes in den digitalen. Wo im realen Raum nur schwarze Stab-Konstrukte installiert sind, scheinen sie im Blick durch die Brille den Raum in alle Richtungen zu durchbrechen. Mal als schwarzer Block, der den Betrachter umgibt, mal als sakral wirkende Skulptur, die untermalt von einem archaischen Trommelsound die Betrachter subtil und bleischwer in die Tiefe zieht. Die Schwerkraft scheint in diesem virtuellen Tempel anderen Gesetzen zu unterliegen.

Die wohl anschaulichste Überschneidung des analog-digitalen Zusammenspiels liefert Lauren Moffatt mit „Image Technology Echoes" (2020). Die Preisträgerin des VR-Kunstpreises hinterfragt die subjektive Wahrnehmung eines Gemäldes mit Mix-Image-Technologien. Diese kombiniert sie mit Malerei, Plastiken oder handgemalten Diapositiven. Im Ausstellungsraum stehen die von Moffatt gefertigten Artefakte, die sich in der VR-Ebene – einem monochromen 5-D-Ausstellungsraum – wiederfinden. Dort begegnet man zwei hologrammartig wirkenden Protagonisten vor einer Leinwand – Motiv: stürmischer Ozean. Stimmenfragmente einer Fantasiesprache schwirren wie ein Klangteppich durch den Raum. Die Objekte wie ein liegendes Steinkrokodil oder verstreute Skizzen sind Teile der Gedankenwelt einer jungen Frau. Auch der sie begleitende Middle Ager ist ein gescannter „Real Character". Beide Figuren sehen das gleiche Bild, aber anders. Um den Raum und die Betrachter-Perspektive zu wechseln tritt man in den VR-Menschen hinein – ein befremdendes, kribbeliges Gefühl. „Mich interessiert die Übertragung des mentalen in den virtuellen Raum", so die in Berlin und Valencia lebende australische Künstlerin. Ob zu fliegen oder zu fallen, durch Wände und – why not – auch durch Personen zu gehen, in der VR ist alles möglich.
An der letzten Station lädt ein von Kunststein gefasster Stuhl ein, Platz für eine VR-Kurzreise zu nehmen. „Willkommen in Aporia" (2020): Die aus Aquarell-Zeichnungen, Skulpturen, Gemälden und anderen Fundstücken erschaffene VR-Welt der Berliner Medienkünstlerin Patricia Detmering wirkt wie ein verzerrter Paradiesgarten. Zwischen Flamingos, Walen und einer felsigen Küstenlandschaft bewegen sich ätherische Avatare. Ihr „menschliches" Interagieren mit „Störfaktoren" spiegelt die soziale Dynamik in Gruppen.
„Nach Corona werden sicherlich mehr Museen das Digitale als künstlerisches Medium anerkennen und beide Realitäten verbinden", ist sich Tina Sauerländer sicher. Beim Hinaustreten in den Hofgarten des HaL schließt man kurz blinzelnd die Augen, geblendet vom Sonnenlicht der Realität.