Wein ist die Leidenschaft von Inhaber Claudio Bragato, doch die Antipasti und im besten Sinne einfachen Gerichte spielen in der „Enoteca L’Angolino" keine weniger bedeutende genüssliche Rolle. Die Gäste danken es seit elf Jahren mit Treue und mit tatkräftiger Unterstützung auch in der Krise.
Warum kommen die Leute in die ‚Enoteca L’Angolino‘?", will der begleitende Freund von Claudio Bragato wissen. „Die kommen, um mit mir zu quatschen", lautet die Antwort des Inhabers, vom gut gelaunten Lachen und einem intensiven Blick aufs Gegenüber begleitet. So ist es. Immer, wenn wir den Blick schweifen lassen und nicht gerade selbst mit ihm reden, findet der Chef Zeit für ein Gespräch mit den vielen Gästen. Die „Enoteca" erfüllt naturgemäß nicht nur ihren Zweck als italienische Piazza. Sie lebt ebenso vom Verkauf, Ausschank und Genuss von Wein sowie vom Essen. Köchin Vaida Bruzinskyte am Herd sowie Tochter Giulia Johannsen am Tresen mit der großen Auslage an Antipasti, Wurst und Käse tragen nicht minder zum Gelingen eines Abends an der „kleinen Ecke", so die Übersetzung des Lokal-Namens, bei.
Mit einem „Tajer Speciale", einem verheißungsvoll mit Vitello Tonnato, Carpaccio, Schinken, Mortadella und Käse belegtem Vesperbrett, und mit einem ersten Glas Weißwein Ribolla Gialla von Eddi, Michele und Davide Luisa aus der Region Friaul Julisch Venetien steigen wir in den Abend ein. Claudio Bragato nimmt uns auf der flüssigen Seite mit zu Teil eins eines kleinen Verkostungsexperiments mit der autochthonen Rebsorte.
„Das ist ein frischer, moderner Wein", kündigt er an, während er unsere Gläser nacheinander mit einem Schluck vom Weißen ausspült und „aviniert". Das sieht nicht nur theatralisch aus, sondern soll vor allem eventuelle Spülreste oder Gerüche im Glas eliminieren und das Glas trinkbereit oder „weingrün" machen. Im Stahltank ausgebaut, hat sich der Ribolla Gialla die Mineralität des Bodens bewahrt und trinkt sich als Begleiter zu den Antipasti prima weg.
Wie mir von einer Bekannten aufgetragen wurde, probiere ich auch die „Sarde in Saor". Sardinen wurden mit Zwiebeln und Rosinen in Weißweinessig eingelegt. „Das ist der Brathering Venetiens", merkt der italienisch-deutsche Feinschmeckerfotograf an. Die Spezialität aus Claudio Bragatos Heimat ist eine Herzensangelegenheit. Es gibt sogar ein Video-Tutorial mit der Zubereitung von „Sarde in Saor" auf der „L’Angolino"-Website.
Dem Fotografen ist das alles etwas zu rosinenlastig. Ich aber mag den süß-säuerlichen Kontrast mit den spürbaren Weinbeeren wie etwa bei einer sizialianischen Caponata. Beim cremig-mürben Vitello Tonnato sind wir alle drei verzückt. Das geht immer und macht zuverlässig glücklich, wenn’s so gut gemacht ist wie hier. Mit der hausgebackenen Zwiebel-Focaccia oder einem Eckchen Mälzer-Brot sorgen wir dafür, dass keine Thunfisch-Sauce übrig bleibt. Der Fotograf macht die „Scarpetta". In Italien wird sich mit einem Pantöffelchen auf der Stelle gedreht, wenn mit dem Brot Saucenreste aufgewischt werden, weil’s so lecker ist.
Thunfischtatar als Überraschung
Eine erfrischende Überraschung ist das Thunfischtatar, das auf einem Bett von Sellerie und Ingwer liegt. „Eine Super-Kombi!", ist der Freund begeistert. Wir merken uns diese Allianz für unsere DIY-Sommerküche. Soeben eingetroffen auf der Karte ist eine Gazpacho. Andalusien ist zu Gast und setzt mit Knobi in der ordnungsgemäß tomaten- und paprikaroten kalten Gemüsesuppe und einem Gurken-Fächer kühl-fruchtige Akzente. Die „Settimana", die Wochenkarte, kann schon mal drei Wochen dauern. Das interpretieren Vater, Tochter und Köchin Vaida, die die Karte gemeinsam entwickeln, nicht so streng. „Giulia und ich arbeiten schon seit zehn Jahren zusammen", sagt Claudio Bragato. „Das klappt tatsächlich."
Der Name Bragato ist in Berlin nicht unbekannt: Mit seinem Bruder Antonio und Schwägerin Jutta gründete Claudio Bragato 1990 das „Il Calice", das seit 2001 seinen Platz am Walter-Benjamin-Platz gefunden hat. Die „Enoteca L’Angolino" ist, so wie sie seit 2009 ist, ganz Claudio Bragatos Ding: „Ich wollte es lieber wieder kleiner und mit mehr Kontakt zu den Gästen haben." Das ist ihm in der Knesebeck- nahe der Ecke Goethestraße gelungen. „Wir haben ein starkes Berliner Stammpublikum und viele Gäste, die nach Berlin gezogen sind."
Oder solche wie Gloria und Guido aus Mailand, die regelmäßig einfliegen. Die beiden machten häufig in Berlin Station, um alle Opernhäuser der Welt jenseits der Scala zu besuchen. Die „Enoteca" wurde ihr Berliner Stammlokal. Sie schenkten Bragato die Kopie eines Gemäldes mit der Ansicht der Insel La Giudecca vor Venedig. Es wurde zum stilbildenden Element in der „Enoteca"; das Original blieb im Museum in Triest.
Derzeit nutzen die Gäste sommer- und pandemiebedingt gern die Terrasse mit zehn Tischen auf dem breiten Bürgersteig. Auch im Innenraum, dessen Türen meist komplett offenstehen, rüsteten die Bragatos mit Blick auf kühlere Tage nach: Zwei große Luftfilter im Gastraum sowie ein weiterer in der „Salita" sollen zusätzliche Sicherheit bieten. Bis wahrscheinlich Ende August ist erst ab 16 Uhr geöffnet. Wie in vielen anderen Lokalen fehlt noch die eine oder andere Kraft. Ein weiterer Koch verstärkt dieser Tage das Team, sodass wieder mehr Manpower fürs Tagesgeschäft ab mittags da ist. Die Stammgäste halfen ebenfalls handfest mit in Corona-Krise und Lockdowns: Ein Unternehmer unterstützte Claudio Bragato, um laufende Verträge stillzulegen, bei Anträgen zu Überbrückungsgeldern und in der Buchhaltung. „Die Hilfe von außen hat dazu beigetragen, die Laune zu heben", sagt Claudio Bragato. Und halbwegs unbeschadet durchzukommen.
„Dessertwein gehört in jede Selektion"
Bei den Primi Piatti erwarten uns gleich drei Pasta-Gerichte. Tagliatelle mit Auberginen-Creme und Stracciatella-Käse umarmen den Sommer mild und cremig. Brennnessel-Gnocchi dagegen wurden in Butter geschwenkt sowie mit Salbei und Parmesanspänen bedeckt. Einfach und einfach gut. Auf einem weiteren Teller schauen uns mit Sepiatinte schwarz gefärbte Tortellacci auf Burrata an und fordern uns auf, die in ihnen versenkten Scampi zu vernaschen. Ob Lust auf Fisch, Salbei oder Sommergemüse: Bei den Pasta-Gerichten dürfte für jeden Geschmack etwas dabei sein.
Parallel dazu wird das kleine Weintasting fortgeführt. Ein zweiter Ribolla Gialla di Oslavia Riserva stammt von Primosic. „Der ist genau das Gegenteil vom ersten und zeigt, was man alles mit einer Rebe machen kann." In diesem Fall: im Holz ausbauen, beinah orange keltern und schauen, was an Mineralität, Kraft und an aromatischem Pfirsich aber auch spitzer Zitrone herauskommt. Der Freund ist so angetan, dass er für seine Frau und das häusliche Noch-mal-Trinken eine Flasche zum Mitnehmen kauft – genau so, wie es in einer Enoteca vorgesehen ist. „Ich liebe die Weine aus dem Friaul", sagt Bragato. „Aber ich versuche, fast ganz Italien abzudecken. Im Moment bin ich auch sehr auf Südtirol bei den Weißen konzentriert." Bei zehn Euro geht’s im Außer-Haus-Verkauf los; für 15 bis 20 Euro bekomme man schon etwas sehr Ordentliches.
Wie sehr gut abgestimmt so eine inoffizielle Weinbegleitung beim Essen sein kann, merken wir beim Dessert. Der korallenrosafarbene „Palmargentina" von Costaripa am Gardasee hat eine enorm süße Erdbeernase und greift damit das Aroma des Erdbeertiramisu auf. Das wiederum ist auf bestmögliche Art sehr weit entfernt vom Standard: Über einen fluffigen hausgebackenen Biskuit ergießt sich eine halbflüssige Creme und verbindet sich mit Erdbeersauce und frischen Früchten.
Auch zu der angenehm frischen, säuerlichen Panna Cotta mit Waldbeeren harmoniert er und umarmt die Beerenaromen ohne Umschweife. „Der Wein duftet viel süßer als er schmeckt", stellen der Freund und ich fest. Und er mag es, sehr gut gekühlt zum Dessert getrunken zu werden. Wärmer wird er etwas breit und rasch zu süß.
„Ich finde, Dessertwein gehört in jede Selektion", sagt Bragato. Das finde ich als Süßweinliebhaberin auch. Doch nicht jeder Gastronom sieht das so. Nicht überall ist gesichert, dass eine offene kleine, aufwendig hergestellte oder lang gereifte und damit auch teurere Flasche zügig ausgetrunken wird.
Das Reden und der Spaß am Genuss sind das Eine in der „Enoteca L’Angolino". Claudio Bragatos ganz persönlicher Antrieb, sich so intensiv mit Wein auseinanderzusetzen, darf wohl getrost als Motto für alles gelten: „Ich suche Befriedigung für den Gaumen." Die Gäste ebenso, und in der „Enoteca L’Angolino" finden sie sie auch.