Dem Schicksal der rund 14 Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden, ist das neu eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin gewidmet. Daneben versucht es, den Blick darauf zu erweitern.
Der alten Dame hört man an der Stimme an, wie bewegt sie nach dem Besuch der Ausstellung ist. Sie stammt aus Ostpreußen und ist mit einer Gruppe von Senioren hier. Sie berichtet von den Treffen mit anderen Vertriebenen und deren Nachfahren: „Wenn wir Ostpreußen mal zusammen sitzen, könnten wir uns noch wochenlang unterhalten. Und es kann sogar passieren, dass Du nach über 80 Jahren Fotos mit der eigenen Mutter darauf zu sehen bekommst, die Du noch nicht kennst." Ein paar Meter weiter telefoniert gerade ein Mitarbeiter. Dabei geht es um eine Postkartensammlung, die jemand dem Dokumentationszentrum als Schenkung überlassen möchte. Ein Ehepaar kann sich gar nicht sattsehen an den Objekten einer nachempfundenen Heimatstube aus dem Altvatergebirge. „Achtung! Schlesier! Ich suche meine Angehörigen. Wer weiß etwas?" steht auf dem gestochen scharf in Druckbuchstaben geschriebenen Schild eines Walter Kamenko aus Leipzig, der gerade „bei Hille" wohnt, sicher weil er als Vertriebener noch keine eigene Wohnung hat. Walter Kamenko erbittet Nachrichten zum Verbleib von Vater, Mutter und Schwester aus Zobten im Bezirk Breslau sowie über ein Fräulein Elfriede Hoffmann aus Frankenthal, vielleicht war das seine Verlobte?
Für die meisten Schüler ist das Kapitel Vertreibung völlig neu
Wer sich die Ausstellung im zweiten Obergeschoss des neuen Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof ansieht, wird sofort erinnert an die unzähligen Berichte von Eltern, Großeltern, Verwandten und Bekannten. Fast jeder kennt jemanden, der selbst oder dessen Vorfahren vertrieben wurden, ob aus Schlesien, Ostpreußen oder dem Sudetenland. Ende 1947 lag der Anteil der Vertriebenen auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone, später DDR, mit fast 4,4 Millionen Menschen und über 24 Prozent der Gesamtbevölkerung am höchsten. In der französischen Besatzungszone hingegen war er zu dieser Zeit mit rund 60.000 Personen und einem Prozent vergleichsweise niedrig. Die Umfrage in einer neunten Klasse Mitte der 1980erJahre in Thüringen ergab, dass ein Drittel der Großeltern und Eltern der um das Jahr 1970 herum geborenen Schüler Vertriebene oder Umsiedler waren, wie man sie damals in DDR-Deutsch nannte. Damals war dieses Thema für Jugendliche viel näher als heute. Nicht nur, weil die Großmutter eines Schulfreundes, die aus Schlesien stammte, wunderbar anders kochte als man es von daheim kannte. Dass Millionen Deutsche in der Folge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verlassen mussten und dass es auf der Flucht Hunderttausende Todesopfer gab, haben viele der heutigen Kinder und Jugendlichen noch nie gehört. Auch dass es die Vertriebenen sehr schwer hatten, in ihrer neuen Heimat, ob nun Thüringen, Bayern oder Mecklenburg, anzukommen und akzeptiert zu werden.
Als Jenny Baumann, im Dokumentationszentrum zuständig für Bildung und Vermittlung, vor Kurzem die elfte Klasse einer Gesamtschule im Westen Berlins durch das Haus führte, erhielt sie gemischte Reaktionen. Die jungen Leute dachten, dass sie viel des hier Dargebotenen schon wussten, weil Krieg, NS-Ideologie und Holocaust im Unterricht behandelt wurden. Doch stellte sich schnell heraus, dass das bittere Kapitel der Vertreibung für die meisten komplett neu war. Das stellt eine große Herausforderung für die Bildungsarbeit dar, so Jenny Baumann. Den Jugendlichen fiel es schwer, bei den vielen Informationen und Begriffen die Übersicht zu behalten. Sie lobten die „hochmoderne" Technik. Damit meinten sie nicht nur die Erklärfilme und gut gemachten Landkarten-Animationen, sondern auch die Audioguides. Diese hält man an Stellen, die einen besonders interessieren, an sogenannten Triggerpunkte, scannt sie und sofort startet ein Hörtext.
„Boat People" neben Balkan-Flüchtlingen
„Mein Vater floh aus Schlesien. Bis zu seinem Tod war er traumatisiert. Meine Familienangehörigen wurden in Sachsen übel behandelt. Tat mir alles sehr leid. Völlig unschuldig!" hat jemand im Forum aufgeschrieben. So heißt eine Art schwarzes Brett, das die Besucher dazu ermuntert, auf Zettel zu notieren, was sie besonders bewegt. Die Jugendlichen der Steglitzer Schulklasse fanden alles rund um das Thema Heimat besonders interessant. Was Heimat für sie selbst bedeutet? „Nicht von Anfang an ein Ort, sondern die Menschen", so eine Schülerin, und auf die Frage, was sie nicht zurücklassen würden, antworteten alle: ihre Familie.
Besonderen Eindruck machen die Filme mit Zeitzeugen in Lebensgröße, die über ihr Schicksal berichten, als ob sie direkt vor einem stünden. Da erscheinen zum Beispiel neben der in Mähren geborenen 90-jährigen Christine Rösch aus München auch der 1992 aus Sarajewo geflohene Theaterregisseur Branko Šimić und eine Künstlerin aus Südvietnam, die 1981 mit den „Boat People" nach Deutschland kam. Sie und andere berichten über ihre Flucht oder Vertreibung. Diese Installation befindet sich wie auch das Forum im ersten Stock. Die Ausstellung dort steht unter dem Titel „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen" und sieht die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts als Ursache für eine minderheitenfeindliche Politik. Eine animierte Karte visualisiert die Veränderungen der Grenzen Europas von 1740 bis 2021. Neben der Teilung Oberschlesiens 1921 findet man den jugoslawischen Bürgerkrieg der 1990er- Jahre und den Zerfall von Österreich-Ungarn 1918. Und auch die bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen nach der Teilung von Britisch-Indien 1947 mit Hunderttausenden Toten und 15 Millionen Deportierten und Vertriebenen werden thematisiert.
Bei der Versenkung der „Wilhelm Gustloff" 1945 vor der pommerischen Küste durch die sowjetische Marine kommen rund 9.000 Flüchtlinge ums Leben. Es ist eine der verlustreichsten Schiffskatastrophen der Geschichte. Unweit der Ausstellungstafel, die sich damit beschäftigt, geht es um eine Katastrophe von heute, den Bürgerkrieg in Syrien und das weltgrößte Flüchtlingslager Zaatari. Seit 2012 finden dort Menschen aus Syrien Zuflucht. Zaatari entwickelte sich zur mittlerweile viertgrößten Stadt Jordaniens, in der rund 80.000 Menschen leben.
Unter dem Themenschwerpunkt Recht und Verantwortung werden unter anderem das Haager Abkommen und die Genfer Konventionen sowie die Arbeit von Suchdiensten und das Asylverfahren in Deutschland erklärt. An einem an eine Friedhofsmauer erinnernden riesigen dunklen Objekt kann man einzelne Schranktüren öffnen und unter dem Stichwort „Genozidale Gewalt" mehr erfahren zum Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg sowie zur Gewalt 1975 in Kambodscha und 1994 in Ruanda. Unter der Überschrift „Säubern, Deportieren, Vertreiben" geht es um Slowenien und die Sowjetunion im Jahre 1941, um Bosnien und Herzegowina 1992 und Kolumbien 2016. Daneben gibt es in einer Vitrine bunt gemischt Gegenstände wie eine Kindergasmaske, ein Suchplakat und eine Flugblattbombe zu sehen.
„Säubern, deportieren, vertreiben"
Bei aller Schwere dieser vielen Schicksale, die hier dokumentiert werden, wirken das vom Architektenbüro Marte.Marte zum Dokumentationszentrum umgebaute denkmalgeschützte Deutschlandhaus und der angeschlossene Neubau luftig und leicht. Sichtbetonwände dominieren nicht nur im zweigeschossigen Foyer. Eine riesige Treppe führt hinauf ins erste Geschoss, und eine freischwebende Wendeltreppe von dort in die zweite Etage. Im Erdgeschoss befindet sich ein großzügig angelegter Raum der Stille, ein Veranstaltungssaal und eine noch nicht zugängliche Fläche für Sonderausstellungen. Noch intensiver mit Flucht, Vertreibung und Versöhnung beschäftigen kann man sich in der Bibliothek und im Wandelgang. Die dortigen Kokons sind Ecken, in die man sich zurückziehen kann, um am Computerbildschirm Zeitzeugenberichte anzuhören und sich über Familienforschung oder das Lastenausgleichsarchiv zu informieren. Die Bibliothek wirkt groß, hell und freundlich. Hier gibt es neben aktuellen Ausgaben der „Karpatenpost" und der „Siebenbürgischen Zeitung" sowie dem Donauschwaben-Heimatkalender 2021 vor allem Sachbücher, aber auch belletristische Werke. Man kann da auf Werke wie den Fotoband „Ruandas Töchter" über Frauen, die während des Völkermords in Ruanda vergewaltigt und schwanger wurden, oder das Buch „Der Osten braucht dich!" über Frauen und die nationalsozialistische Germanisierungspolitik stoßen.
Dass die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg in diesem Museum relativiert werden könnte, was manche Kritiker befürchten, kann man verneinen. Um dieses Dokumentationszentrum wurde viele Jahre erbittert gerungen. Allein die Liste der Ausstellungskuratoren spricht Bände: von den 14 aufgelisteten Personen leben nur noch vier. Nun bekam das Schicksal der Vertriebenen, das sie stellvertretend für alle Deutschen erlitten haben, im nationalen Gedächtnis ein Zuhause. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel das Dokumentationszentrum im Juni 2021 eröffnete, fehlte die Frau, ohne die es diese Einrichtung wahrscheinlich gar nicht geben würde. Die umstrittene frühere Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, hatte keine Einladung erhalten, doch freut sie sich „unendlich, dass jetzt dieser elementare Teil deutscher Geschichte und Schicksale endlich einen Platz in der deutschen Hauptstadt gefunden hat."
Keine Relativierung deutscher Schuld
Fazit: Auch wenn man sich im ersten Geschoss manchmal wie in einem Gemischtwarenladen vorkommt und die Gender-Sprache in allen Texten, auch den Hörtexten, nervt, sollte man unbedingt hingehen und sich mit diesem wichtigen Kapitel unserer Geschichte beschäftigen. Viel Zeit einplanen, um tiefer eintauchen zu können. Und am besten die Kinder und Enkel mitnehmen!
Geöffnet ist dienstags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr. Da Bibliothek und Zeitzeugenarchiv am Wochenende geschlossen sind, empfiehlt sich ein Besuch an einem Wochentag besonders. Der Eintritt ist kostenlos, allerdings muss man vorher ein Zeitfenster buchen.