Die Erde und das Klima geraten immer mehr aus ihrem natürlichen Gleichgewicht. Droht der Kollaps einzelner Systeme, wie Eisschilde oder Biosphären, sprechen Klimaforscher von Kipppunkten. Der Meteorologe Prof. Dr. Stefan Emeis erklärt im Interview, welche Folgen dies für die Menschheit und den Erdball haben würde.
Herr Prof. Dr. Emeis, können Sie uns die sogenannten Kipppunkte oder Kippelemente des Klimas anhand eines Gleichnisses erklären?
Ich finde das Bild eines hohen umkippenden Schranks beschreibt den Mechanismus treffend. Wenn Sie oben dagegen drücken, kippt er sehr schnell. Aber jeder kennt die Mühe, die es bereitet, einen Schrank wiederaufzurichten. Das symbolisiert meiner Ansicht nach sehr gut, was auf der Erde in verschiedenen Punkten vor sich geht. Wir erleben jetzt, angestoßen durch den Treibhauseffekt, Übergänge in andere Zustände auf der Erde. Der Weg zurück ist sicherlich nicht so einfach. Allein die Treibhausgase um 20 Prozent zurück auf das Niveau des Jahres 2000 zu reduzieren, wird beispielsweise nicht dazu führen, dass diese Kipppunkten sich zurückentwickeln. Das ist ähnlich wie beim Schrank, da braucht es sehr viel mehr Aufwand, um den Ausstoß der Treibhausgase wieder zurückzudrehen, damit das System wieder zurückspringt in den Zustand, den es vor den Kipppunkten hatte.
Welche Kippelemente können das Klima der Erde aus dem Lot bringen?
Zu den wichtigsten gehören aus meiner Sicht das tauende Eis an den Polarkappen. Nicht nur das Eis verschwindet, sondern damit ist auch eine sogenannte positive Rückkopplung verbunden. Wenn das Eis weg ist, fehlt auch die Reflektierung des Sonnenlichts durch die helle Oberfläche des Eises. Doch damit geht eine weitere Erwärmung einher. Auf dem Land liegendes tauendes Eis führt zum Anstieg des Meeresspiegels, denn das Meer ist in Bezug auf die Sonneneinstrahlung relativ dunkel und absorbiert den Großteil der einfallenden Strahlung. Das trägt zu einer weiteren Erwärmung bei. Das nennt man positive Rückkopplungseffekte.
Ein positiver Rückkopplungseffekt ist ein Beleg für ein wissenschaftliches Phänomen?
Ja, das Gleiche gilt auch für die Permafrostböden in Nordsibirien und Nordkanada. Wenn diese auftauen wird das darin gebundene Treibhausgas Methan freigesetzt und trägt zumindest kurzfristig zu einer weiteren Erderwärmung bei. Allerdings reagiert das in der Atmosphäre freigesetzte Methan deutlich schneller als Kohlendioxid. Nach ungefähr 15 bis 25 Jahren ist das Methan weitgehend in chemischen Reaktionen aufgebraucht, sodass der Effekt langsam verschwindet.
In letzter Zeit ist oft von einer Abschwächung des Jetstreams die Rede. Wann ist da der Kipppunkt erreicht?
Angetrieben wird der Jetstream durch den Temperaturgegensatz zwischen Tropen und Polarregionen. Je stärker dieser Temperaturgegensatz ist, umso stärker und schneller strömt der Jet. Nun beobachten wir, dass diese Temperaturdifferenz allmählich geringer wird. Dadurch, dass sich die Arktis deutlich schneller erwärmt als die Tropen wird dieser Temperaturkontrast geringer und damit auch der Antrieb des Jetstreams. Wenn aber der Jetstream sich abschwächt, neigt er dazu mehr Ausbuchtungen zu zeigen. Das heißt, er strömt nicht länger in circa zehn Kilometern Höhe gleichmäßig um den Pol herum, sondern bewegt sich in wellenförmigen Mustern. Diese Wellenmuster haben die ungute Eigenschaft, dass sie für längere Zeit liegen bleiben – dafür sind die höheren Gebirge mitverantwortlich, beispielsweise die Rocky Mountains oder die Vulkanregion von Kamtschatka. An diesen Bergen bleibt der Jetstream teilweise in einer bestimmten Phase hängen. Momentan befinden wir uns in einer Phase, in der die Witterung in Europa unter dem Einfluss einer nach Süden zeigenden Ausbuchtung steht. Der Jetstream kommt vom Nordatlantik und strömt in südöstlicher Richtung zum Mittelmeer und über Russland weiter nach Norden. Diese südlichen Ausbuchtungen des Jets ziehen Tiefdruckgebiete nach sich. Die Luftmassen strömen in der Regel vermehrt aus nördlicher Richtung. Das müssen wir seit Ende Juni ertragen.
Wie kommt es, dass sich der Jetstream in mehreren Tausend Metern Höhe „einklinkt"?
Sie müssen sehen, dass die Rocky Mountains 4.000 bis 5.000 Meter in die Höhe ragen. Auch wenn der Jet in acht oder zehn Kilometern Höhe strömt, muss die Atmosphäre als Ganzes über dieses Gebirge hinweg. Das hat Einfluss auf die höheren Luftschichten und beeinflusst maßgeblich den Jet. Deshalb bleibt der Jet gern an diesen Gebirgen in einem bestimmten Wellenmuster hängen. Offenkundig hat das Andauern dieser Wellenmuster zugenommen. Die Beobachtungen aus den letzten Jahren haben ergeben, dass sowohl heiße Lagen, wie die vergangenen drei Sommer, als auch die kühlen Lagen, wie dieser Sommer, über vier bis acht Wochen erhalten bleiben. Das sorgt für diese extremen Witterungsverhältnisse. Früher kannte man ein rasches Durchziehen der Tiefdruckgebiete, gefolgt von einem Hochdruckgebiet. Aber die Dominanz einer Lage hat es bislang nicht so oft gegeben.
Welche Rolle spielt eine sich verändernde Ozeanzirkulation für uns Europäer?
Durch die Zirkulation des Atlantiks werden warme Wassermassen von der amerikanischen Ostküste Richtung Nordwesteuropa transportiert. Das natürliche Gleichgewicht der atlantischen Zirkulation ist dadurch gefährdet, wenn in größerem Maße Schmelzwasser vom Nordpolareis, also leichteres Süßwasser, auf die Wasseroberfläche im Nordatlantik trifft und diese bremsen würde. Auf längere Sicht wäre eine Folge, dass die „Heizung Europas" ausfallen würde. Während die Temperatur in der übrigen Welt ansteigen würde, würde es in Europa nicht unbedingt oder nur sehr viel weniger wärmer werden. Der Grund dafür ist, dass diese warme Luftzufuhr aus dem Südwesten schwächer ausfallen würde. Allerdings sind sich hierin die Klimatologen nicht einig, welche genauen Folgen das hat. Klar ist: Das Klima in Europa würde sich deutlich anders entwickeln als derzeit.
Was weiß man bislang über die Erholungskräfte der Erde, also über das eigene Regenerationspotenzial des Erdsystems?
Die tropischen Regenwälder, die zu großen Teilen abgeholzt wurden, wachsen wenn überhaupt nur sehr langsam wieder nach. Außerdem: Wenn so ein riesiges Waldgebiet weg ist, werden der lokale und regionale Nährstoff-, Feuchte- und Niederschlagshaushalt irreparabel gestört. Die Erde wird mit Sicherheit nicht in den alten Zustand zurückkehren, wenn alle Wälder abgeholzt sind. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklung des Nordpolareises. Dort haben sich bereits um 1990 und 2007 kleinere Kipppunkte ereignet. Diese hat die Natur nicht mehr rückgängig gemacht. Durch die veränderten Eigenschaften der Erdoberfläche stellt sich ein neuer Zustand ein, der als neuer Gleichgewichtszustand bestehen bleibt. Zusammenfassend kann man sagen, dass gegen kleinere Störungen viele Teilsysteme des Erdsystems, dazu zählen die Eisschilde, Ozeanzirkulation und Biosphäre, stabil sind, aber gegen größere nicht. Die Regenerationsfähigkeit der Erde ist begrenzt.
Können Sie zum Beispiel anhand des möglichen Anstiegs des Meeresspiegels erklären, wann hier der Kipppunkt erreicht ist?
Die genaue Lage der Kipppunkte lässt sich nicht hundertprozentig berechnen. Dazu bräuchten wir ein vollständiges Modell aller Wechselwirkungen der verschiedenen Teile untereinander. Unsere heutigen Simulationsmodelle versuchen zwar eine Annäherung an diese Wechselwirkungen. Aber bestimmte Vorgänge werden immer nur parametrisiert, das heißt sie werden nur in ihren Auswirkungen beschrieben. Weil sie zu komplex sind, können wir sie nicht in Gänze im Computermodell abbilden. Ohnehin wäre die Laufzeit zu lang und die Berechnung mathematisch nicht handelbar. Eine weitere Problematik: Zum einen gibt es schwimmendes Eis auf dem Nordpolarmeer, das aber hat beim Tauen keine Auswirkungen auf den Meeresspiegel. Interessant sind für uns allerdings alle Eismassen, die auf Land aufliegen – das sind zu einem kleinen Teil die Gletscher in den Bergen, die Insel Grönland mit ihrem Eispanzer und die große Antarktis. Sollten diese Eismassen schmelzen, fließt zusätzliches Wasser in die Meere, und das führt zu einem Anstieg des Meeresspiegels. Zugleich erwärmt sich das Ozeanwasser aufgrund der allgemeinen Erwärmung und dehnt sich aus.
Jetzt kann man denken: Was tangiert mich die Abschmelzung des Kontinentaleises? Das Grönlandeis ist ja dick genug und weit weg von Europa. Was für Konsequenzen hätte der Anstieg des Meeresspiegels für die Menschen in Europa und auf der ganzen Welt?
Nein, so sollte man auf keinen Fall denken. Angenommen das Grönlandeis würde vollständig abschmelzen, spricht man von einem um sieben Meter höheren Meeresspiegel als heute. Gegen ein Plus von sieben Metern kann sich aber Europa nicht wappnen. Das Problem hierbei ist, dass viele Millionenstädte und ganze Nationen, wie die Niederlande und Bangladesch auf Meeresspiegelniveau liegen. Trotz Schutz durch Deiche würde die Bevölkerung bei einem Anstieg um einige Meter nicht dagegen ankommen. Da würden auch keine Pumpen und höhere Deiche mehr helfen – diese Länder würden schlicht von der Landkarte verschwinden. Wesentliche landwirtschaftliche Flächen, etwa wie die Flussdeltas in Bangladesch, liegen nahezu auf Niveau des Meeresspiegels und würden regelrecht ausradiert. Die Folge wäre ein großes Ernährungsproblem. Das Gleiche würde mit einem Großteil der Infrastruktur passieren. Häfen, Industrieanlagen und Verkehrswege befinden sich fast auf Meeresniveau. Denken Sie nur an die Häfen in Hamburg, Rotterdam, New York und Rio de Janeiro. Wenn es wirklich nur zu einem Anstieg des Meeresspiegels von einigen Metern kommt, stünde die Menschheit vor einem riesigen Problem. Ich wundere mich, wie ruhig dieser Tatsachenbestand von der Weltgemeinschaft zur Kenntnis genommen wird. Momentan liegt der Anstieg des Meeresspiegels bei 3,5 Millimeter im Jahr – Tendenz zunehmend. Der letzte IPCC-Bericht hat vorausberechnet, dass der Meeresspiegel um bis zu 70 bis 90 Zentimeter bis zum Ende des Jahrhunderts ansteigen soll. Der Weltklimarat geht allerdings in seinen Berechnungen nicht von weiteren Zunahmen aus, die in den Prozess eingelagerte Kipppunkte auslösen würden.
Der Weltklimarat hat errechnet, dass wir weltweit jedes Jahr die CO2-Emissionen um zehn Prozent reduzieren müssten, um die Erderwärmung unter 1,5 Grad zu halten. Denken Sie, dass die Regierungen der weltweit größten CO2-Emittenten, USA, China und Indien gegensteuern und das schaffen?
Ich bin skeptisch. Die bisherigen Erfahrungen machen mir wenig Hoffnung. Das Montreal-Protokoll zur Rettung der Ozonschicht von 1987 war eine rühmliche Ausnahme, aber hier waren auch nicht große Teile der Weltwirtschaft betroffen, sondern nur einige kleinere Spezialsektoren. Skeptisch stimmen mich auch Gruppen, die meinen, dass sie für die komplexen Abläufe auf unserem Planeten ganz einfache und bequeme Lösungen haben. Diese gibt es aber nicht. Wer ihnen folgt, lässt sich leiten von Rattenfängern, die lediglich die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Etwas Hoffnung macht mir, dass die Wirtschaft in manchen Bereichen weiter ist als die Politik. Aber eben noch lange nicht alle Bereiche. Zukünftige Gewinnmodelle werden anders als die heutigen aussehen müssen. Und ein Teil der fossilen Rohstoffe wird in der Erde bleiben müssen. Hoffnungsvoll stimmt mich auch, dass die junge Generation zunehmend erkennt, dass sie ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen muss.
Was erhoffen Sie sich vom Weltklimagipfel in Glasgow Ende Oktober?
Ich erwarte, dass man vom Erkenntnisproblem zum Handeln übergeht. Das Erkenntnisproblem ist ein Prozess, der seit 1992 andauert. Bis auf wenige populistische Strömungen hat die ganze Welt verstanden, worum es geht. Es gibt mittlerweile genügend Lippenbekenntnisse, dass man etwas tun muss und will. Auch in der Wirtschaft sind inzwischen viele Unternehmen auf einem Weg, dass sie sich zur Lösung des Problems bekennen. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Bereitschaft in politisches Handeln umzusetzen und in den einzelnen Ländern in relativ kurzer Zeit Weichen zu stellen. Um das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, bleiben uns noch etwa 20 Jahre. Wenn wir bis dahin nicht die Kohlendioxidemissionen auf virtuell nahe Null gebracht haben, dann haben wir das Ziel verfehlt. Für die Erreichung des noch besseren 1,5-Grad-Zieles blieben uns noch sieben Jahre. Das heißt wir müssten binnen sieben Jahren die CO2-Emissionen völlig auf Null herunterfahren, was aber technisch nahezu unmöglich ist. Jetzt sollten wir aber für das Zwei-Grad-Ziel nicht wieder anfangen zu warten, sondern rasch handeln.